Erstmalig haben die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD heute im Bundestag einen Antrag vorgelegt (18/8393), der sich dafür einsetzt, die „Aufnahmestaaten um Syrien sowie Libyen“ entwicklungspolitisch zu stärken. Der Antrag gehe jedoch nicht weit genug und zeuge von einem mangelnden Verständnis, was wirksame Fluchtursachenbekämpfung tatsächlich bedeute, kritisierte Claudia Roth in ihrer Rede. Bündnis 90/Die Grünen haben deshalb einen eigenen Antrag (18/6772) vorgelegt, mit dem sie auf eine bessere Ressortabstimmung zur „Bewältigung der Fluchtkrise in Drittstaaten“ dringen.
Wer Fluchtursachen bekämpfen wolle, der könne seine Politik gar nicht breit genug anlegen, fuhr Roth fort. Bei der Bekämpfung von Fluchtursachen gehe es doch gerade „um eine möglichst allumfassende Politik“, die kein Ressort, die kein Ministerium außer acht und nicht nur den „Minister für das gute Gewissen“ (Anm. d. Red. Gerd Müller) sprechen lasse. Die Regierung müsse sich vielmehr fragen, inwiefern ihr eigenes politisches Handeln und Nichthandeln im Ausland, aber auch in Deutschland, dazu beitrage, dass über 60 Millionen Menschen ihre bisherige Heimat, ihr bisheriges Leben hinter sich lassen mussten, so Roth.
Gerichtet an die Adresse des anwesenden Entwicklungsministers Müller sagte sie, zu einer glaubwürdigen Fluchtursachenbekämpfung gehöre auch, die milliardenschweren Rüstungsexporte in Krisengebiete endlich einzustellen. Stattdessen brauche es eine wirklich faire Handelspolitik, die „nicht eine rücksichtslose Maximalmarktöffnung für unsere Unternehmen“ zum Ziel habe, sondern diese bei Umweltschutz, Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechten sowie dem Menschenrechtsschutz systematisch in die Pflicht nehme. Nach Ansicht Roths bedeute Fluchtursachenbekämpfung letztlich auch, die wachsende globale Ungerechtigkeit anzugehen wie dem fortschreitenden Klimawandel entgegenzuwirken. Beides sei mit TTIP nicht zu haben.
Die Rede im Wortlaut:
Sehr verehrter, lieber Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich dürfte ich hier heute gar nicht stehen. Warum? Als wir Grünen veranlassen wollten, dass unser eigener Antrag zur Fluchtursachenbekämpfung mit aufgesetzt wird, hieß es aus den Koalitionsfraktionen, das sei leider nicht möglich, denn der Grünen-Antrag sei einfach zu breit angelegt.
Ich glaube, sehr viel deutlicher hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, Ihr mangelndes Verständnis dafür, was wirksame Fluchtursachenbekämpfung tatsächlich bedeutet, gar nicht zum Ausdruck bringen können. Wer nämlich Fluchtursachen bekämpfen will, der kann seine Politik gar nicht breit genug anlegen.
Bei der Bekämpfung von Fluchtursachen geht es doch gerade um eine möglichst allumfassende Politik, die kein Ressort, die kein Ministerium außer Acht lässt und eben nicht nur den Minister für das gute Gewissen hier sprechen lässt, die konsequent der Frage nachgeht, inwieweit das politische Handeln und Nichthandeln in unseren Partnerländern, aber eben auch bei uns in Deutschland dazu beitragen, dass über 60 Millionen Menschen ihre bisherige Heimat, ihr bisheriges Leben hinter sich lassen mussten.
Fluchtursachenbekämpfung bedeutet dann zum Beispiel, die diplomatischen, die politischen Anstrengungen zur Beilegung aktueller Krisen und Kriege stärker zu vervielfachen und Deutschland wirklich zu einem Vorreiter in der zivilen Krisenprävention zu machen. Das muss doch unser Anspruch sein. Das muss doch der Anspruch der deutschen Bundesregierung sein.
Fluchtursachenbekämpfung bedeutet auch, lieber Gerd Müller, Jemen nicht nur in einem Nebensatz zu erwähnen, sondern dann auch die milliardenschweren Rüstungsexporte in die Krisengebiete endlich einzustellen.
Fluchtursachenbekämpfung heißt, für eine wirklich faire Handelspolitik einzutreten, die eben nicht eine rücksichtslose maximale Marktöffnung für unsere Unternehmen zum Ziel hat, sondern sie beim Umweltschutz, bei den Arbeitnehmerrechten, beim Menschenrechtsschutz systematisch in die Pflicht nimmt. Und da haben wir erhebliche Zweifel, dass TTIP das leistet.
Fluchtursachenbekämpfung bedeutet schließlich, die wachsende globale Ungerechtigkeit ebenso konsequent anzugehen wie den fortschreitenden Klimawandel; das heißt, die Beschlüsse von Paris und New York nicht nur abzudrucken, sondern sie wirklich umzusetzen und damit jetzt anzufangen.
Weiter heißt das, die ärmsten Staaten der Welt umfassend zu unterstützen und – ja, Axel Schäfer – nicht die ODA-Quote nun durch die Anrechnung innerdeutscher Ausgaben für die Flüchtlingsversorgung oder durch die Vermischung mit Geldern für den Klimaschutz künstlich schönzurechnen.
Insofern gebe ich Ihnen recht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von der Union: Unser grüner Ansatz ist viel breiter angelegt als Ihr heutiger Antrag, der sich letztlich doch kaum mit der im Titel benannten Bekämpfung von Fluchtursachen beschäftigt, sondern viel mehr mit der Unterstützung der Nachbarstaaten Syriens.
Verstehen Sie uns bitte nicht falsch: Selbstverständlich sind Länder wie der Libanon, wie Jordanien, der Irak oder die Türkei, die für die Flüchtlinge aus der Hölle von Syrien die ersten Rückzugsorte sind, heillos überfordert. Selbstverständlich liegt das auch daran, dass wir diese Länder viel zu lange alleingelassen haben. Selbstverständlich ist es allerhöchste Zeit, sie zu unterstützen. Aber damit bekämpfen wir doch keine Fluchtursachen in den Herkunftsländern!
Wenn wir tatsächlich dafür sorgen wollen, dass weniger Menschen fliehen, und nicht nur erreichen wollen, dass weniger Menschen bei uns ankommen, dann müssen wir unsere Politik in vielen Feldern ganz grundlegend umgestalten. Und dann kann der Ansatz eben nicht breit genug sein, sondern dann muss er überall, in allen Bereichen, anfangen – und das besser heute als morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.