Im Bundestag wurden heute die Anträge „UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung global gestalten – Post 2015-Agenda auf den Weg bringen“ der Großen Koalition sowie „Armut und soziale Ungleichheit weltweit überwinden, natürliche Grundlagen bewahren“ der Fraktion DIE LINKE diskutiert. Die Welt hat im Jahr 2015 eine große Chance, sich zum Klimaschutz und zu globaler Gerechtigkeit zu verständigen. Das Jahr bietet mit den Gipfeln in Elmau (G7 Gipfel im Juni), Addis Abeba (UN–Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung), New York (UN-Nachhaltigkeitsgipfel im September) und Paris (UN-Klimakonferenz im Dezember) die Möglichkeit, die richtigen Weichen für den sozial-ökologischen Umbau in Deutschland und weltweit zu stellen.
In ihrer Rede forderte Claudia Roth, die Debatte raus aus dem Technischen und rein in die Herzen und Köpfe der Menschen zu tragen. Darüber hinaus drang sie gegenüber der Bundesregierung darauf, die Widersprüchlichkeit zu beenden und sich zu entscheiden, ob sie Klimaschutz oder Kohle, Fairen Handel oder TTIP, Frieden oder enttabuisierte Rüstungsexporte wolle. Nur wenn sie ihre eigene Widersprüchlichkeit beende und endlich ihre Finanzierungsversprechen für Klimaschutz und Entwicklungszusammenarbeit einhalte, könne die Bundesregierung auch von den Entwicklungs- und Schwellenländern einfordern, ihre Regierungsführung für eine eigenständige Entwicklung zu verbessern.
Die Rede im Wortlaut:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die großen Krisen überragen und überschatten mehr und mehr die Fragen der globalen Zusammenarbeit. Amnesty International und Wolfgang Ischinger sprechen fast im Gleichklang – das passiert wirklich nicht oft – vom Zeitalter des Zerfalls unserer Weltordnung. Bei den Menschen herrschen Ratlosigkeit, Entsetzen, Trauer angesichts des Leidens und der Gewalt in der Ukraine, angesichts von inzwischen über 57 Millionen Flüchtlingen – die größte Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg -, aber auch angesichts des Terrors, der uns immer näher rückt.
Erscheint es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht auch merkwürdig angesichts dieser humanitären Tragödien und Katastrophen, wenn wir nun über furchtbar komplizierte internationale Prozesse reden mit diesen furchtbar komplizierten Begriffen und Abkürzungen, die außerhalb der Welt von AwZ, BMZ und GIZ keiner kennt, wenn wir über die Post-2015-Agenda reden, über SDGs, über eine ODA-Reform, über den TOSD? Mich wundert es auf alle Fälle nicht, wenn kaum jemand versteht, worum es eigentlich geht – nicht in der Bevölkerung, nicht im Parlament und leider offenbar auch nicht in der Bundesregierung. Die Debatte, sie ist viel zu virtuell, sie ist viel zu fachlich, und sie ist vor allem unpolitisch geworden. Das müssen wir ändern!
Die Debatte erreicht nicht die Köpfe der Menschen und auch nicht ihre Herzen. Sie muss raus aus diesem Elfenbeinturm; denn es geht nicht um einen Expertendiskurs, sondern um unsere Verantwortung für die Zukunft des Planeten und für die Lebenssituation der Menschen.
Dabei müssen zwei Entwicklungen im Mittelpunkt stehen: der menschgemachte Umwelt- und Klimakollaps und die rasant zunehmende globale soziale Ungleichheit. Gerd Müller hat es gesagt: Es muss uns alle erschrecken, dass die 80 reichsten Menschen auf der Welt inzwischen so viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. 80 Menschen besitzen mehr als 3,5 Milliarden Menschen.
70 Prozent der Weltbevölkerung leben in Ländern, in denen die soziale Ungleichheit massiv zugenommen hat. Deshalb kann es uns doch nicht wundern, dass viele versuchen, in anderen Ländern für sich und ihre Kinder eine Perspektive und Zukunft zu finden.
Große Migrationsbewegungen ‑ sie sind bei den 57 Millionen Flüchtlingen gar nicht mitgezählt ‑ angeht: Das sind in der Zwischenzeit Umwelt- und Klimaflüchtlinge. Die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit und die Bekämpfung der Klimakrise sind heute also die allerwichtigsten Menschheitsaufgaben.
Ein nachhaltiges und gerechtes Entwicklungsmodell für die ganze Welt ist deshalb eine Überlebensfrage und vorausschauende Friedenspolitik.
Die globalen Nachhaltigkeitsziele sind keine abstrakte Größe, möglichst ganz weit weg von uns und nur etwas für die vermeintlichen Entwicklungsländer, also die Fortsetzung der Millenniumsziele. Nein, sie nehmen uns alle in die Pflicht und bestimmen unser Leben im Hier und Jetzt: wie wir arbeiten, wie wir wirtschaften, wie wir konsumieren, wie wir leben. Hier kommt es auf die gesamte Bundesregierung an, die Chance, die es in diesem Jahr der Entscheidungen gibt, zu ergreifen.
Es geht schlichtweg um die Frage, ob es den politischen Willen für eine nachhaltige Gesellschaft gibt, die sich vom Verbrauch fossiler Rohstoffe entkoppelt und umweltschädliche Subventionen abbaut. Es geht um ehrliche und verbindliche Zusagen zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung und um völkerrechtlich bindende Regeln und bindende Überprüfungsmechanismen in der Klima- und Gerechtigkeitspolitik. Das sind die Eckpunkte, an denen wir Sie, werte Bundesregierung, messen werden.
Ich habe mir den Antrag der Koalition angeschaut. Er ist genau in dem vorhin beschriebenen Sound geschrieben: so abstrakt, so virtuell und so wahnsinnig weit weg von uns. Das reicht eben nicht aus. Es braucht weitaus mehr. Der Erfolg der Verhandlungen hängt doch nicht von schönen Texten und Technokraten ab, sondern davon, dass sich hier bei uns, in der deutschen Politik, etwas ändert.
Wir müssen auch und gerade die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele bei uns gewährleisten. Das sind Ziele, die uns in Deutschland betreffen. Es geht um bezahlbare und nachhaltige Energie, es geht um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, es geht um menschenwürdige Arbeit, es geht um belastbare Infrastruktur, es geht um die Verringerung von Ungleichheit, es geht um Geschlechter- und Gendergerechtigkeit, es geht um die Bekämpfung des Klimawandels und der Klimakrise. Das muss hier bei uns, vor unserer Haustür, beginnen.
In der UNO wird gerade ein Entwicklungsprogramm verhandelt, das bis 2030 bindend sein wird und auch für uns in Deutschland gilt, weil wir in vielen Bereichen eben auch eine Art Entwicklungsland sind. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass das in der gesamten Regierung angekommen ist oder von ihr geteilt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Entwicklungsausschuss, warum haben Ihren Antrag eigentlich nicht auch die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses, des Verteidigungsausschusses, des Haushaltsauschusses und des Finanzausschusses mitgezeichnet?
Erleben wir hier nicht eine Art „Hü und Hott“ statt „Hü oder Hott“ – Klima, aber doch die Kohle; fairer Handel, aber doch TTIP; Frieden schaffen, aber doch enttabuisierte Rüstungsexporte, wie es Frau von der Leyen fordert? Oder geht es wirklich um Kohärenz, sprich: um eine ganzheitliche und glaubwürdige Politik?
Sie tun so, als hätte das eine rein gar nichts mit dem anderen zu tun. Ich sage: Beam me up, Scotty, raus in die ungeahnten Weiten der Technokratie, die weit weg sind von der eigenen Politik! Aber wenn nicht Deutschland als eines der allerreichsten Länder zum globalen Vorreiter wird, dann wird es mit der Nachhaltigkeitsagenda schwierig. Mit der G-7-Präsidentschaft hat Deutschland die Möglichkeit, den internationalen Prozess zu prägen und die größten Industrieländer der Welt auf eine gemeinsame Agenda für den sozial-ökologischen Umbau einzuschwören. Also: klare Finanzierungsversprechen auf dem Treffen in Addis Abeba – Entwicklungsfinanzierung ist Klimapolitik -, ein Ende der fossilen Subventionen und der Subventionen für die Agroindustrie.
Nur wenn diese Vorleistungen in die Verhandlungen eingehen, nur wenn diese Vorleistungen von uns erbracht werden, dann können wir von den G-77-Ländern, von den Industrieländern und von den Schwellenländern einfordern, auch ihren notwendigen Beitrag zu leisten: den Abbau von Korruption, den Aufbau von gerechten Steuersystemen und die Umverteilung von Reichtum.
Frau Merkel hat jetzt die Chance, zu zeigen, was mehr Verantwortung Deutschlands für die Welt wirklich heißt. Dann wäre eine globale Partnerschaft wirklich möglich, die wir in einer Zeit der Krisen so dringend brauchen – vielleicht noch nie so dringend wie heute.
Ich danke Ihnen.