Rede von Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth anlässlich des 70. Jahrestages der Auflösung des sogenannten „Zigeunerlagers“ Auschwitz-Birkenau am 2. und 3. August 1944
Auschwitz, 2. August 2014
(Es gilt das gesprochene Wort)
Sehr geehrte Überlebende des Holocaust
Liebe Nachgeborenen
Sehr geehrte Exzellenzen
Kolleginnen und Kollegen
Sehr geehrter Roman Kwiatkowski
Lieber Romani Rose
Liebe Freundinnen und Freunde
Mire latsche Mahla – Mire latsche Mahlezi!
Hier an diesem Ort
Auschwitz –
an dem alle menschlichen Werte zerstört wurden
Auschwitz –
der das Ende jeder Zivilisation markiert
Hier und gerade heute empfinde ich unermessliche Trauer und tiefe Demut, wenn ich im Namen des deutschen Bundestages zum Gedenken an die Auflösung des sogenannten „Zigeunerlagers“ vor 70 Jahren im Sommer 1944 – zu ihnen sprechen darf.
Wir sind hier, um uns diesem Ort und den schlimmsten Verbrechen zu stellen.
Dieser Ort, der solch unermesslichen Schrecken, der Gewalt, der Terror der Vernichtung symbolisiert,
Dieser Ort, der jedes Wort, jede Geste schier zu erdrücken scheint.
Wohl 23 000 Sinti und Roma waren Gefangene im Abschnitt IIb hier in Auschwitz-Birkenau.
Nur 2 000 Menschen haben den Massenmord überlebt, 5 000 Menschen wurden hier im Lager vergast, 2 900 Menschen wurden bei der Räumung des Lagers in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 bestialisch ermordet.
Es war die Nacht von Porajmos – die Nacht des Verschlingens.
Die anderen Sinti und Roma fielen dem Hunger, der Zwangsarbeit sowie Krankheiten und Seuchen im Lager zum Opfer. Zwillingskinder wurden Opfer skrupelloser eiskalter medizinischer Versuche eines Dr. Mengele – eines der dunkelsten Kapitel im tötlichen Horror des Lagers.
Auschwitz ist das Symbol für den Genozid an den Sinti und Roma und den von den Nazis als Zigeuner bezeichneten Menschen.
Auschwitz steht für ein Meer an Tränen – an Leid – an Schmerz.
Aber Auschwitz ist auch Symbol für den mutigen bewaffneten Widerstand der Sinti und Roma, der brutal niedergeschlagen wurde.
Wir sind heute hier, um uns vor den Toten zu verneigen.
Und hier, an diesem Ort des Terrors, wollen wir den Lebenden ein Versprechen geben:
Nie wieder darf es ein solches Morden und systematisches Vernichten von Menschenleben geben wie es in Auschwitz unter der Herrschaft der Nationalsozialisten stattgefunden hat.
Gerade als Deutsche und Vertreterin des demokratischen Deutschlands spüre ich die enorme Verantwortung, die uns diese Geschichte – die mir meine Geschichte als Deutsche – aufträgt.
Ich möchte mich daher stellvertretend bei allen Sinti und Roma, die heute hier sind zum Gedenken, für das unsagbare Unrecht und für die Gräueltaten, die Ihnen und Ihren Liebsten, Ihren Familien, ihren Freunden, die ihrer Minderheit im Namen einer furchtbaren Ideologie angetan wurden, aus tiefstem Herzen entschuldigen.
Ich schäme mich für das, was Deutsche Ihnen, oft auch Deutschen angetan haben.
Über 20 000 tote Sinti und Roma hier in Auschwitz, zum großen Teil aus Österreich und Deutschland, insgesamt 500 000 tote Sinti und Roma durch die systematische Verfolgung und grauenhafte Tötung im Dritten Reich:
Es war der Versuch der endgültigen Auslöschung ihrer großen Kultur.
Bei allem grausamen Schrecken, den dieser Terror tief in die Seelen der europäischen Sinti und Roma eingebrannt hat, können wir heute dennoch sagen: Es ist den Nazis nicht gelungen.
Es ist ihnen nicht gelungen, ganze Kulturen auszulöschen, den Reichtum der europäischen Völker zu zerstören.
Sie haben tiefe Wunden und Traumata verursacht, haben europäische Kulturen vertrieben und geschwächt, aber sie konnten diesen Reichtum nicht zerstören.
Nicht die Sprache – nicht die Musik – nicht die Literatur – nicht die Bilder – Vor allem aber nicht das Andenken an die ermordeten Frauen, Männer und Kinder.
Sie sind und sie bleiben bei uns.
Ich bin sehr froh, 70 Jahre nach dem Terror der Nazis aus voller Überzeugung sagen zu können: Sinti und Roma gehören zur europäischen Kultur und sind fester Bestandteil unseres ethnischen und kulturellen Reichtums und unserer europäischen Gesellschaften, in denen sie seit vielen Jahrhunderten leben .
Dieses Überleben, dieses Dazugehören ist die schärfste Waffe gegen die versuchte Vernichtung durch die Nazis, und es ist die schärfste Waffe gegen die bestehenden und beschämenden Diskriminierungen und Ausgrenzungen, die Sinti und Roma in Europa erleben müssen.
Das Gedenken heute ermahnt uns aufzustehen gegen jede Form von Menschenrechtsverletzungen in unserem Europa!
Avner Shalev, der Leiter der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, hat einmal gesagt:
„Auschwitz ist ein Platz, an dem wir die Verantwortung teilen, der Vergangenheit zu gedenken, um eine bessere Gesellschaft zu errichten“.
Und wenn wir diese bessere Gesellschaft errichten und erhalten wollen, dann müssen wir uns alle gemeinsam dagegen auflehnen, jeden Tag, wenn Menschen, nur weil sie Sinti oder Roma sind,
– der Zugang zur Gesundheitsversorgung,
– zum Bildungssystem und
– zum Arbeitsmarkt verweigert wird,
– wenn ihnen die elementarsten Teilhaberechte entzogen werden,
– und sie Opfer antiziganistischer Gewalt werden
– wenn es Länder gibt, in denen sie nicht sicher sind.
Es beschämt mich, wenn die Not, der viele Sinti und Roma in Europa auch heute noch ausgesetzt sind,
– nicht gesehen wird,
– wenn sie ignoriert wird,
– wenn sie verschwiegen wird.
Und es bewegt mich zutiefst, dass sich viele Sinti und Roma heute oftmals immer noch nicht trauen, von sich als Sinti oder Roma zu sprechen – aus Angst vor Ausgrenzung, Herabwürdigung und erheblichen Nachteilen verstecken sie ihre eigene Identität, sind die gezwungen sich selbst zu verleugnen.
Aber ihre Herzen sollen nicht länger trauern, ihre Seelen nicht vom Schmerz zerbrechen.
Sie sollen laut und stolz sagen: Ich will ich sein – anders will ich nicht sein.
Für die 12 Millionen Sinti und Roma ist Europa aber „Heimat“.
Heimat zu der sie dazu gehören und in der sie gebraucht werden.
Deswegen ist dieses Gedenken heute auch ein Erinnern in die Zukunft und eine Verantwortung für die Gegenwart.
Die Verantwortung, die von den Schrecken der Vergangenheit auf uns lastet, sie ist von uns heute einzulösen.
Lassen Sie uns alle gemeinsam dafür kämpfen, dass die Ausgrenzung der Sinti und Roma endlich ein Ende hat, und dass die Lehre aus der Geschichte hilft, unseren moralischen Imperativ zu leben:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Vielen Dank!
Einen Bericht über die Gedenkveranstaltung am 2. August 2014 finden Sie auch unter www.bundestag.de.