Auf Antrag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat sich der Bundestag heute mit einer Aktuellen Stunde zur Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag in Ankara befasst. Claudia Roth sagte in ihrer Rede, unser tief empfundenes Mitgefühl richte sich an die Hinterbliebenen der Opfer. In die Trauer mische sich aber auch Wut darüber, dass es in einem massiv überwachten Land, wie der Türkei, nun schon zum dritten Mal zu einem derart tödlichen Angriff kommen konnte.
„Der Terroranschlag von Ankara ist der vorläufige, letzte Höhepunkt in einer blutigen Spirale der Gewalt. Früher relativ stabil in einer lichterloh brennenden Region steht die Türkei heute selbst an einem Abgrund und das muss uns zutiefst beunruhigen und besorgen“, so Roth.
An die Adresse des türkischen Präsidenten gerichtet sagte sie: Erdoğan sei im Wahlkampf mittlerweile jedes Mittel recht, „wenn es zum Erfolg führt, zur Alleinherrschaft der AKP, zum Umbau der Türkei hin zu einer Autokratie à la Putin.“ Es sei fraglich, wie angesichts bürgerkriegsähnlicher Zustände, mit Städten und Dörfern im Ausnahmezustand, toten Zivilisten, aber auch von der PKK getöteten Polizisten und Soldaten eine freie und faire Wahl stattfinden könne.
Bei aller Kritik dürfe dennoch nicht vergessen werden, dass die Türkei seit Jahren Flüchtlinge aufgenommen habe, mit über 2,5 Millionen Menschen mehr als jedes andere Land. Bisher habe das international aber kaum Unterstützung gefunden. Erst jetzt, wo die Flüchtlinge nach vier Jahren Blutvergießen auch in Deutschland ankämen, werde reagiert, fuhr Roth fort.
Im Hinblick auf die Gespräche zwischen der EU und der Türkei warnte Roth davor, Flüchtlingspolitik oder die Bekämpfung von Fluchtursachen mit der militärischen Absicherung und Abschottung von Grenzen erreichen zu wollen. „Das ist zu Außenpolitik mutierte Innenpolitik, die interessengeleitet ist, um Flüchtlinge abzuhalten.“ Mit der Realität habe das nichts, aber auch gar nichts zu tun, so Roth.
Den Zeitpunkt des Besuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel am Wochenende in Istanbul bezeichnete Roth als „völlig unverständlich“. Damit unterstütze die Kanzlerin „de facto“ den Wahlkampf von Erdogan. Dabei habe Deutschland doch das größte Interesse, dass in der Türkei „Demokratie wieder einkehrt, dass Menschenrechte geachtet werden und dass wir nicht Putin‘sche Verhältnisse dort bekommen.“
Die Rede im Wortlaut:
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir alle sind schockiert über den schrecklichen, über den mörderischen Terroranschlag in Ankara mit so vielen Verletzten, mit Hunderten von Verletzten und mit so vielen Toten. Unser tief empfundenes Mitgefühl richtet sich an die Hinterbliebenen der Opfer.
In die Trauer mischt sich aber auch Mut darüber, dass es in einem so allumfassend sicherheitsüberwachten Land wie der Türkei nun schon zum dritten Mal nach Diyarbakir im Juni, nach Suruҫ im Juli überhaupt zu einem derart tödlichen Angriff kommen konnte, der wieder der linksliberalen HDP und der demokratischen Zivilgesellschaft gegolten hat. Wo, so frage ich, ist Sicherheit für die, die sich um Frieden und für ein Ende der Gewalt in der Türkei einsetzen? Wo sind Untersuchungen und Aufklärungen über die Hintermänner der Verbrechen? Ich finde es zynisch, wenn es nach dieser Tragödie kein Einhalten gibt, sondern schon einen Tag nach dem Blutbad die türkische Luftwaffe wieder Angriffe auf kurdische Dörfer fliegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Terroranschlag von Ankara ist der vorläufig letzte Höhepunkt in einer blutigen Spirale der Gewalt. Früher relativ stabil in einer lichterloh brennenden Region steht die Türkei heute selbst an einem Abgrund. Das muss uns zutiefst beunruhigen und besorgen. Seit den letzten Wahlen, die nicht das von Erdogan erhoffte Ergebnis gebracht haben, erlebt die Türkei einen Wahlkampf, in dem jedes Mittel geheiligt scheint, wenn es zum Erfolg führt: zur Alleinherrschaft der AKP, zum Umbau der Türkei hin zu einer Autokratie á la Putin. Bürgerkriegsähnliche Zustände, Städte und Dörfer im Ausnahmezustand, tote Zivilisten, aber auch von der PKK getötete Polizisten und Soldaten, die Pressefreiheit hinter Gittern, Zeitungen werden verboten, Fernsehsender werden geschlossen, Redakteure werden verhaftet: Wie um alles in der Welt soll so eine freie und eine faire Wahl überhaupt stattfinden können? Erdogan schafft Feindbilder. Er kriminalisiert politische Gegner und eine demokratische Opposition. Er spaltet die Gesellschaft in „wir“ und „jene“. Jene, das sind seine Feinde. Diese Spaltung und diese zunehmende Gewalt sind ein brandgefährliches Gift, das sich auch bei uns verbreiten kann. Auch das muss uns zutiefst besorgen.
Aber bei aller Kritik: Richtig ist auch, dass die Türkei seit Jahren Flüchtlinge aufgenommen hat, über 2,5 Millionen Menschen. Die Türkei ist das Land, das die höchste Zahl beherbergt. Bisher hat das keine Unterstützung gefunden und eigentlich auch nicht interessiert. Jetzt, wo die Flüchtlinge nach vier Jahren des Blutvergießens bei uns ankommen, wird reagiert. Aber Flüchtlingspolitik, die auf eine Bekämpfung von Fluchtursachen zielt, kann doch nicht in der Absicherung und Abschottung einer Grenze in Zusammenarbeit mit dem türkischen Militär bestehen, auch nicht in dem Vorhaben, die Türkei zum sicheren Herkunftsland umzudeklinieren. Das ist zu Außenpolitik mutierte Innenpolitik, die von dem Interesse geleitet ist, Flüchtlinge fernzuhalten. Mit der Realität in der Türkei hat das nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum Frau Merkel gerade jetzt in die Türkei fährt, in der sie absolut vermintes Gebiet betritt, und mit ihrem Besuch de facto den Wahlkampf von Erdogan unterstützt, ist mir völlig unverständlich. Aber wenn Sie, liebe Frau Merkel, Herrn Erdogan treffen, dann erwarten wir, dass Sie selbstverständlich auch mit der Opposition reden, dass Sie sich mit der CHP, also der sozialdemokratisch orientierten Partei, treffen, dass Sie sich mit der HDP treffen. Wir erwarten, dass Sie Selahattin Demirtas, dem Vorsitzenden der HDP, angesichts der vielen Toten beim Anschlag auf die Friedensdemo unser aller Mitgefühl aussprechen.
Wir erwarten, dass Sie sich mit den Aktivisten vom Gezi-Park treffen, mit den bedrohten Journalisten, mit den religiösen Minderheiten. Bitte kritisieren Sie offen die dramatische Polarisierung in der Türkei, die Kriminalisierung Andersdenkender, den erbarmungslosen Krieg gegen die Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten! Sprechen Sie klare Worte, Frau Merkel, und liefern Sie sich zwei Wochen vor der Wahl nicht der Propagandamaschinerie des türkischen Präsidenten aus! Wir haben doch das allergrößte Interesse daran, dass in der Türkei wieder Demokratie einkehrt, dass Menschenrechte geachtet werden und dass wir dort nicht Putin’sche Verhältnisse bekommen.
Vielen Dank.