Rede von Claudia Roth anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages auf der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/ Die Grünen in Hannover am 27. Januar 2018.
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Liebe Freundinnen und Freunde, ein Parteitag ist vieles.
Eine grüne BDK, das sind GO-Anträge, sind Abschiede und Neubeginne. Eine BDK, das sind politische Debatten um Satzungsänderungen ebenso wie strategische Richtungsentscheidungen.
Der heutige Tag aber muss mehr, muss vor allem EINES sein: Erinnerung. Am 27. Januar 1945, vor genau 73 Jahren, stieß die Rote Armee ein Tor auf.
Es war der Eingang zum monströsesten Ort in einem ohnehin monströsen System, die Pforte zu einer Hölle namens Auschwitz.
DIESMAL aber würde das Tor NICHT wieder verschlossen werden, es blieb geöffnet, ermöglichte den wenigen Überlebenden den Weg hinaus, zurück in die Menschlichkeit – und wies diesem Land den schwierigen Pfad zu Aufarbeitung und Versöhnung.
Es war in diesem Moment, da zwei Worte ihren Ursprung nahmen: nie wieder.
Dieses „nie wieder“ aber setzt voraus, dass wir uns erinnern, immer und immer wieder – nicht etwa der alleinigen Rückschau halber, sondern als Erinnern in die Gegenwart, als Erinnern in die Zukunft.
Das, liebe Freundinnen und Freunde, erscheint mir heute wichtiger denn je.
Das Selbstverständliche nämlich ist nicht mehr selbstverständlich in diesem Land, wenn „Jude“ wieder Schimpfwort auf den Schulhöfen ist, wenn über 20 Prozent der 18- bis 30-Jährigen den Begriff „Auschwitz“ nicht zuordnen können.
Es erscheint mir wichtiger denn je, wenn erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg im Bundestag, der Herzkammer unserer lebendigen und starken Demokratie, wieder Abgeordnete das Wort ergreifen, die einen „Schlussstrich“ ziehen wollen, wo es keinen geben kann;
die den zentralen Ort des Gedenkens, nicht aber das Geschehene als „Schande“ bezeichnen; die wieder bestimmen wollen, wer dazugehört und wer nicht – zu einem exklusiven Klub, einem einförmigen,einem grauen „Volk“ statt jener vielfältigen, bunten Bevölkerung, diesem starken WIR ALLE, das unser Land doch längst prägt und reich macht.
Dieser offene Angriff auf unsere Erinnerungskultur, dieser Versuch einer Geschichtsklitterung, einer Relativierung der Naziverbrechen muss für uns Grüne, muss für ALLE Demokratinnen und Demokraten dreierlei bedeuten: Gesicht-Zeigen, lauten Widerstand, Verantwortung.
Mehr denn je tragen wir die Verantwortung, das kollektive Gedächtnis kontinuierlich zu erneuern – und uns all jenen, die das Vergessen einfordern, mit aller Kraft entgegenzustellen.
Dabei sind wir nicht allein, auch heute nicht, hier in Hannover.
Hier vorn nämlich sitzt Hanni Lévy, eine unendlich beeindruckende Dame, fast 94 Jahre jung, aufrecht und zugewandt, humorvoll und nahbar, die allein durch ihre dramatische Lebensgeschichte etwas beweist, das wir EBENSO WENIG vergessen sollten.
Selbst in den dunkelsten Stunden gab es stets Menschen, die Haltung bewiesen haben, tiefen Humanismus, echten Mut.
Selbst in den dunkelsten Stunden gab es Widerstand, meist verborgen, im Kleinen und Alltäglichen,aber eben doch: Widerstand. Und auch DER ist Teil unserer Geschichte, ist Vermächtnis und Verpflichtung zugleich.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Hanni Lévy wurde 1924 geboren, als Hanni Weißenberg in Berlin, wuchs behütet in Tempelhof, später in Kreuzberg auf.
Ihren Vater verlor sie früh, er starb 1940 an den gesundheitlichen Folgen seiner Zwangsarbeit; ihre Mutter starb nur zwei Jahre später, nach mangelhafter ärztlicher Versorgung; und im selben Jahr wurde ihre Großmutter nach Theresienstadt deportiert, wo auch SIE kurz darauf ihr Leben ließ.
So war die Hanni Weißenberg auf sich allein gestellt, als Jüdin in einer Stadt, die sich bald schon rühmen würde, „judenfrei“ zu sein – eine junge Frau, die kurz nach ihrem 18. Geburtstag nur wenige Sekunden Zeit haben würde, die vielleicht weitreichendste Entscheidung ihres Lebens zu treffen.
Plötzlich nämlich standen die „Abholer“ der Gestapo im Hausflur, hämmerten gegen ihre Wohnungstür, und Hanni Weißenberg entschloss, mit nicht mehr als ihrem Mantel und einer Handtasche über den Dachboden zu fliehen, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen, und unterzutauchen.
Bei einem Friseurbesuch wurde wenig später aus dem jüdischen Mädchen Hanni Weißenberg: die blonde Deutsche Hannelore Winkler, die fortan, wie 7000 andere sogenannte Unsichtbare, mitten in Berlin ein vermeintlich normales Leben führen mussten, mit der ständigen Angst im Herzen, entdeckt zu werden.
Und viele WURDEN entdeckt: Nur 1700 von ihnen überlebten; Hanni Weißenberg, später Hannelore Winkler, heute Hanni Lévy ist eine davon.
Sie hat überlebt dank der bedingungslosen Hilfe von Menschen wie: Elfriede Most, Grete Most, Viktoria Kolzer, die sie aufnahmen und schützten.
Alle drei Frauen wurden in der Zwischenzeit – auf Initiative von Hanni Lévy – in Yad Vashem in die Liste der „Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen.
Eine wunderschöne Geste, die nicht nur die Menschlichkeit eben dieser Frauen würdigt, sondern auch die Größe dieser kleinen Frau namens Hanni Lévy zeigt.
Frau Lévy, es war für mich ein großes Geschenk, Sie im vergangenen November bei einer Besprechung des wirklich sehenswerten Films „Die Unsichtbaren“ kennengelernt zu haben, und ich, WIR danke Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie den weiten Weg von Paris nach Hannover auf sich genommen haben, um heute zu uns zu sprechen.
Wir alle werden Ihre Worte mitnehmen, sie aus Hannover in jeden Winkel dieser Republik tragen, und DAS mit diesen Worten tun, was wir doch ohnehin als unsere kollektive Aufgabe verstehen: nicht vergessen.
Die Rede von Hanni Lévy finden Sie hier
Informationen zum Film „Die Unsichtbaren“, der das Leben von Hanni Lévy und drei anderen Frauen, erzählt, finden Sie hier.