In der letzten Woche reiste Claudia Roth im Rahmen eines offiziellen Besuchs gemeinsam mit den Bundestagsabgeordneten Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen) und Prof. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) nach Tunesien (Tunis) und Italien (Sizilien: Palermo und Trapani). Dort traf sie u.a. den Parlamentspräsidenten der Republik Tunesien, Herrn Mohamed Ennaceur; den ersten Vizepräsidenten der Versammlung der Volksvertreter, Herrn Abdelfattah Mourou; den Premierminister der tunesischen Republik, Youssef Chahed; sowie die Vorsitzende der Expertenkommission für Gleichheit und individuelle Freiheiten im tunesischen Parlament, Frau Bochra Belhadj Hamida.
Des Weiteren tauschte sie sich mit Vertreter*innen der tunesischen Zivilgesellschaft und Repräsentant*innen der Mission der Vereinten Nationen für Libyen (UNSMIL) aus. Weitere Gespräche fanden mit Vertreter*innen von UNHCR, IOM und Nichtregierungsorganisationen statt, die von Tunesien aus in Libyen arbeiten.
Auch in Sizilien stand die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik im Mittelpunkt der Gespräche – insbesondere die Frage, wie die italienischen Behörden und Nichtregierungsorganisationen auf Sizilien mit der Situation am Mittelmeer angesichts der andauernden humanitären Katastrophen in Libyen umgehen. Zudem ist Italien infolge der (aus grüner Sicht: gescheiterten und dringend reformbedürftigen) Dublin-Verordnung der Europäischen Union als Erstaufnahmeland mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, was die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten betrifft.
In Palermo traf Claudia Roth in diesem Zusammenhang den Bürgermeister der Stadt, Leoluca Orlando; den Präsidenten der Region Sizilien, Sebastiano Musumeci; die Präfektin von Palermo, Antonella De Miro; und den Polizeidirektor von Palermo, Questore Dr. Renato Cortese. In der Präfektur Trapani standen der Besuch in einem sogenannten Hotspot, also einem Erstaufnahmezentrum für Geflüchtete, Treffen mit Beamten der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX und ein Austausch mit dem Präfekten von Trapani, Carco Pellos, auf dem Programm. Außerdem fanden zahlreiche Gespräche mit Vertreter*innen der Kirche und mit Nichtregierungsorganisationen in Trapani sowie Palermo statt. Ein Austausch mit Vertreter*innen der EU-Mittelmeer-Mission „EUNAVFOR MED / Sophia“ handelte abschließend von der „Ausbildung der libyschen Küstenwache“ durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Ein weiterer Schwerpunkt der Reise war die politische und humanitäre Lage in Libyen und die Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum. In vielen Gesprächen ging es deshalb auch um die politische Situation in der Region, den Umgang mit Flüchtlingen in den Grenz- und Küstengebieten sowie die Implikationen der schwierigen Lage für die EU-Politik. Außerdem tauschte sich Claudia Roth über die Perspektiven der politisch-militärischen Zusammenarbeit zwischen der EU und den (menschenrechtspolitisch zum Teil höchstproblematischen) Akteuren in Libyen aus, ebenso wie über den auf dem jüngsten EU-Afrika-Gipfel angekündigten Plan zur Evakuierung von Geflüchteten aus Libyen. Dieser Plan sieht unter anderem Rückführungen, die Umsiedlung in Nachbarstaaten sowie ein Resettlement von Geflüchteten in die EU vor.
Libyen ist nach wie vor Ausgangsland für Migration und wichtiges Transitland für viele Flüchtlinge und Migrant*innen. Die libysche Staatlichkeit aber ist immer noch sehr rudimentär und keineswegs belastbar. Expert*innen sprechen von bis zu 2000 bewaffneten Milizen, die zum Teil staatliche Aufgaben erfüllen und zur ohnehin hohen politischen Instabilität in Libyen beitragen. Menschenschmuggel ist weiterhin ein einträgliches Geschäft. Derweil ist der Osten des Landes für die internationale Gemeinschaft im Prinzip völlig unbekannt. Es gibt kaum belastbare Informationen über die tatsächliche Lage dort.
Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und UN berichteten zudem übereinstimmend, dass mittlerweile fast alle Flüchtlinge, die durch oder aus Libyen kommen, von traumatischen Erfahrungen u.a. mit (auch sexualisierter) Gewalt berichten.
Die Bemühungen der UN zur Stabilisierung der Lage in Libyen erfordern flankierende Kraftanstrengungen von allen Seiten und den Verzicht auf Partikularinteressen durch einige regionale Akteure und Staaten. Zugleich braucht es umfassende Konzepte zur Fluchtursachenbekämpfung in jenen Staaten, aus denen die meisten Flüchtlinge und Migranten kommen.
Zur Situation in Tunesien sagte Claudia Roth unmittelbar nach der Rückkehr:
„Kein anderes Land des Arabischen Frühlings hat eine Demokratisierung durchlebt wie Tunesien. Viele der Errungenschaften sind aber in Gefahr. Um sie zu erhalten und zukunftsfest zu machen, braucht Tunesien die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft – insbesondere der EU. Die Menschen in Tunesien haben den Mut bewiesen, gegen die Diktatur und für bessere sozio-ökonomische Perspektiven auf die Straße zu gehen. Wir sollten alles dafür tun, dass sich ihre Hoffnungen nicht wieder in Luft auflösen, denn die Folgen wären unabsehbar. Die EU-Mitgliedstaaten und auch Deutschland sollten deshalb aufhören, Tunesien vor allem als Türsteher bei der Abschottung vor Flüchtenden zu verstehen – und stattdessen den Fokus auf wirtschaftliche Entwicklung, legale Migration, den Schutz von Menschenrechten und den Ausbau des Rechtsstaats legen.“
Die Kommunalwahlen im Mai werden vor diesem Hintergrund zu einem Lackmustest für die tunesische Demokratie werden. Das Gesetz dazu ist beeindruckend fortschrittlich, mit einer 50%-Frauenquote, mit einer Quote für Jugendliche und Menschen mit Behinderung. Wie diese vielfältige Repräsentanz in der Realpolitik funktionieren und in der Öffentlich angenommen werden wird, dürfte von vielen Faktoren abhängen, nicht zuletzt der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Landes. Zu den ohnehin großen Herausforderungen kommen schließlich noch menschenrechtspolitische Defizite in Tunesien hinzu, wie die Verfolgung von LGBTIQ* und ein eklatanter Mangel an Transparenz sowie Korruption in der öffentlichen Verwaltung.