Am vergangenen Sonntag hatte Claudia Roth die große Ehre, im Rahmen des Gottesdienstes in der Stadt- und Pfarrkirche Wittenberg, der Mutterkirche der Reformation, eine Kanzelrede zu halten. Die Stadtkirche war die Predigtkirche Martin Luthers und von Johannes Bugenhagen, des ersten lutherischen Pfarrers Wittenbergs.
Im Themenjahr „Reformation und die Eine Welt“ im Rahmen der Dekade „Luther 2017 – 500 Jahre Reformation“ sprach sie zu den Themen Wachstum und Nachhaltigkeit. Die Kanzelreden sind den großen globalen Herausforderungen gewidmet, vor denen Kirche und Gesellschaft in der Einen Welt stehen.
Kanzelrede Claudia Roth am 9. Oktober 2016 in der Stadtkirche St. Marien Wittenberg
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde.Ich wünsche Ihnen einen guten – einen friedlichen Morgen in so unfriedlichen Zeiten und sage von ganzem Herzen Grüß Gott, wo würde es besser passen als hier.
Ich habe bereits viele Reden gehalten, das gehört ja zu meinem Berufsbild dazu. Aber heute bin ich richtig aufgeregt und fühle mich sehr geehrt, denn es ist schon etwas ganz besonderes, das Wort an diesem Ort ergreifen zu dürfen, im Hause Martin Luthers, in der Mutterkirche der Reformation.
Und Reformation ist doch genau das, was die Eine Welt dringend benötigt, eine grundlegende Um-Bildung unseres Zusammenlebens, eine Bewusstwerdung unserer wechselseitigen Abhängigkeit, ein neues Verständnis unserer ganz eigenen Verantwortung für die Folgen unseres Handelns hier für den Alltag in anderen Ländern und Kontinenten dieser Einen Welt.
Denn die Gefahr eines mutlosen Rückzugs in die vermeintliche Schutzzone der Abgeschiedenheit, die Gefahr einer Renationalisierung des Denkens, einer Umdeutung zum Teil sicher begründbarer Sorgen wie Terror und Gewalt in das Recht auf Ausgrenzung und Spaltung, diese Gefahr ist heute größer denn je im vereinten Europa.
Umso mehr müssen wir uns die Frage stellen, in welchem Deutschland – in welcher Gesellschaft wir leben wollen – das haben nicht zuletzt die Erfahrungen in Dresden am Tag der deutschen Einheit schmerzlich bewiesen.
Wollen wir also in einer Welt leben, die sich angesichts von globalen, von unweigerlich grenzenlosen Aufgaben, zurückzieht und sich vormacht, der Alleingang sei zielführender als der gemeinsame Weg?
Wollen wir uns, wie es der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Prinz Zeid Ra´ ad Al Hussein, so trefflich ausgedrückt hat, in eine vermeintlich überschaubare und einheitliche Fantasie zurückziehen, die es so nie gegeben hat, die es nie geben wird, dabei aber in Kauf nehmen, dass diese Scheinwelt für unzählige Menschen, für die anderen, die da draußen, für die besonders Verletzlichen noch mehr Leid bedeutet?
Wollen wir, wenn ich mir den beunruhigenden Zustand Europas so ansehe, für einen müden, ja für einen geschichtsvergessenen Kontinent optieren, dessen Wohlstand in großen Teilen auf den Vorzügen und nicht selten auf der Ausbeutung einer globalisierten Welt beruht, ein Europa, das sich zugleich aber just vor jenen Herausforderungen abschottet, die seine Regierungen und Unternehmen doch häufig selbst mitverursacht haben?
Oder sagen wir klar und deutlich: Wir schenken euch, den Hetzern und Hassern, den Populisten und Opportunisten, wir schenken euch nicht unsere Angst, sondern wir gehen raus und gestalten sie, die offene und vielfältige Gesellschaft, die reiche, an Kulturen und Religionen, in der wir Realitäten nicht bewusst fehldeuten oder umdefinieren, sondern gemeinschaftlich gestalten, so mühsam das auch manchmal sein mag?
Ich denke, wir sind uns einig, welche dieser beiden Optionen die verantwortungsvolle, die aus meiner Sicht grüne, die aus Ihrer Sicht reformistisch ist.
Dieser unser Einsatz gegen Spaltung und gegen Ausgrenzung aber, diese Reformation der Einen Welt, sie muss bei uns beginnen.
Gerade darin liegt das Entscheidende, das geradezu Revolutionäre der im vergangenen Jahr von den Vereinten Nationen verabschiedeten „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“, die in nie dagewesener Umfänglichkeit die beiden erbetenen Leitmotive meiner heutigen Rede, Wachstum und Nachhaltigkeit, in globalen Einklang zu bringen versucht.
Die versucht, die unzähligen Auswirkungen unser aller Handeln in Erinnerung zu rufen, zu ordnen und umzugestalten.
Die vollkommen zurecht anmahnt, dass wir alle einen Teil der gemeinschaftlichen Verantwortung schultern müssen, wenn wir Genesis 1, Vers 28 nicht wörtlich nehmen und uns die Erde untertan machen, sondern uns als integralen Bestandteil von dieser Einen Erde verstehen, und uns auch so verhalten wollen.
Das bedeutet dann auch, dass wir uns eingestehen: Die Krisen sind global, doch weil sie zugleich bei uns und anderen ankommen, helfen keine Mauern, keine Zäune, keine Festung Europa. Vielmehr müssen wir nach den Strukturen unserer Politik, unseres Wirtschaftens und unseres Wirkens fragen.
Und in der Folge müssen wir eines begreifen: Natürlich tragen Europa und auch Deutschland Mitverantwortung dafür, dass Menschen in anderen Regionen dieser Erde ihre Lebensgrundlagen verlieren. Folglich wird nicht die Entwicklungspolitik die Armut und den Hunger beenden können, jedenfalls nicht allein.
Vielmehr braucht es dazu grundlegende Reformen in der europäischen Agrarpolitik, und einen längst überfälligen Paradigmenwechsel im globalen Handelssystem, der Wohlstand und Nachhaltigkeit gemeinsam denkt und das tun TTIP und CETA mitnichten.
Wenn nämlich der Landwirt in Indien in noch größere Armut abrutscht, weil alle nur noch billiges Milchpulver aus Europa kaufen, dann liegt das auch daran, dass unsere subventionierte Massenproduktion viel mehr herstellt, als wir selber konsumieren können, und wir unsere Überschüsse zu Spottpreisen in die Welt exportieren, wie die Geflügelteile – die man hier nicht mehr isst – die dann aber in Ghana die örtlichen Bauern vernichtet.
Wenn in Burkina Faso der Boden immer weiter austrocknet, wenn immer mehr Menschen auf den Malediven oder auf Kiribati umsiedeln müssen, weil der Meeresspiegel so sehr steigt, dass ihre Dörfer bald überschwemmt werden, dann liegt das auch daran, dass Staaten wie Deutschland den Klimawandel viel zu lange befeuert haben und befeuern.
Und wenn hunderttausende Menschen im Jemen unter Krieg und Gewalt leiden, dann liegt das auch daran, dass Staaten wie Deutschland ihre Rüstungsgüter an vermeintliche Partner wie Saudi-Arabien verkauft haben, die ihre militärische Übermacht nun auf brutalste Art und Weise ausspielen.
Einfacher ausgedrückt:
Was nützt eine noch so weitsichtige Entwicklungspolitik, was nützen friedensschaffende Maßnahmen durch den Außenminister, was nützen uns Kooperationsverträge im Bereich der erneuerbaren Energien, wenn im Wirtschaftsministerium, im Bundessicherheitsrat, oder im Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle zugleich Maßnahmen genehmigt werden, die den erzielten Fortschritt wieder zunichtemachen, oder ihn gar im Keim ersticken?
Deshalb: Wahre nachhaltige Entwicklung, das, was ich eben als Reformation der Einen Welt bezeichnet habe, beginnt zu Hause, und somit auch in Deutschland.
Hier können wir etwas ändern, hier können wir uns ändern, denn auch wir sind und bleiben, in ganz unterschiedlichen Bereichen, Entwicklungsland.
Und eben diese Entwicklung hin zu globaler Verantwortung, die beginnt häufig im ganz Kleinen:
- in der Familie,
- in der Gemeinde,
- in der Stadt.
Genau hier liegt eine der größten Herausforderungen:
Wenn wir unser tagtägliches Leben und Wirken tatsächlich mit einer global verstandenen Nachhaltigkeit in Einklang bringen wollen, wenn wir nicht „über die Fische in den Meeren, über die Vögel unter dem Himmel“ herrschen, sondern mit ihnen und unseren Mitmenschen die gemeinsame Zukunft ein wenig lebenswerter gestalten wollen, dann müssen wir jene Dialektik aus unserem Handeln im Kleinen einerseits, aus den Auswirkungen auf das große Ganze andererseits, immer wieder verdeutlichen und vermitteln.
Das ist gerade heute eine Lebensaufgabe, denn das Überforderungspotential ist groß, und der vermeintlich ruhestiftende Rückzug in die Selbstbezogenheit wirkt für viele sehr verlockend:
Was kann ich schon ausrichten? Was ändert es schon, wenn ich mich in meiner Gemeinde für diese eine Familie aus Syrien einsetze? Was soll denn das bisschen Fairtrade in meinem Einkauf schon bewirken? Und warum sollte ich überhaupt zur nächsten Wahl gehen?
Auf diese eine Stimme hört doch ohnehin niemand in einer Welt,
- die vollkommen in Unordnung geraten ist;
- in der wir die Auflösung der post-kolonialen Staatenordnung beobachten;
- und in der die reichsten 62 Menschen so viel besitzen wie die ärmsten 3,5 Milliarden.
In einer Welt:
- in der so viele Menschen auf der Flucht sind, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr; 67 Millionen, die Hälfte Kinder und Jugendliche.
In einer Welt:
- in der durch Krieg, Terror, Armut, militärische Interventionen und Naturkatastrophen ganze Staaten zerfallen;
- in der es, von der Türkei über Russland bis nach Ägypten, einen dramatischen autoritären Rollback gibt.
- und in der ein unerträglicher frauenverachtender Trump Präsidentschaftskandidat in den USA ist.
Selbstverständlich fällt es angesichts all dieser fast schon überwältigenden Entwicklungen schwer, überzeugend zu vermitteln, dass jede und jeder einzelne von uns Veränderung erbringen, dass der Umschwung nicht allein von „denen da oben“ gestemmt werden kann, und dass der Rückzug in Abgeschiedenheit und Abschottung nicht eine einzelne dieser ehrfurchtseinflößenden Herausforderungen löst, sondern sie allenfalls für kurze Zeit aus dem Blickfeld rückt, bevor sie mit noch größerer Wucht dorthin zurückkehren.
Selbstverständlich fällt es schwer, Tag für Tag aufs Neue dafür zu werben, dass – um den deutsch-österreichischen amerikanischen Ökonom und Weltbürger Josef Schumpeter zu bemühen – wir alle die Wahl haben zwischen einfachen oder aber relevanten Antworten auf die komplexen Fragen unserer Zeit.
Doch braucht es genau das:
- Den großen Wurf zwar, die großen Umstrukturierungen;
- aber eben auch die Kleinstarbeit,
- das schrittweise Herantasten,
- die tagtägliche Überzeugungsarbeit,
- ja auch das ein oder andere Experiment in unserer Nachbarschaft, in unserer Gemeinde.
Zugleich dürfen Geduld und Verständnis, darf der Versuch der Überzeugung und des Mitreißens aber nicht verwechselt werden mit unterschieds- und grenzenloser Akzeptanz.
Wenn ich erneut zurückdenke an Dresden, dann sehe ich, neben einer Vielzahl sehr positiver Begegnungen, ein echtes Demokratieproblem in einem Land, das leicht entflammbar ist – in dem brennende Asylbewerberheime erneut zum schrecklichen Alltag gehören, und in dem es sich rächt, jahrelang das Problem mit Rechtsextremen verharmlost, verleugnet und beschönigt zu haben, Hauptsache die Fassade stimmt.
Reformation aber ist nicht Renovierung an der Häuserfront, an der Oberfläche, sondern ist schwere und dauerhafte Arbeit an den Grundpfeilern unserer Gesellschaft.
Und das fordert spätestens dort klare Kante, wo Menschen in unserem Land wieder Angst haben müssen, etwa
- weil sie Juden sind,
- weil sie Muslime sind,
- weil sie senegalesische Christen sind,
- weil sie Sinti und Roma sind,
- weil sie Serben oder Jenische sind,
- weil sie lesbisch oder schwul sind,
- weil sie obdachlos oder behindert sind.
Es fordert den Einsatz, fordert Gesicht zeigen für ein offenes, vielfältiges und demokratisches Deutschland. Für eine Kirche, die Reformation und Veränderung nicht nur als Auftrag nach außen, sondern auch nach innen begreift. Für ein Europa, das keine Festung errichtet, das sich nicht im Wettlauf der Schäbigkeit seiner humanitären Schutzverantwortung verweigert, und das hinterfragt, wie unsere Art zu leben, zu wirtschaften, zu produzieren zum Zustand einer Welt in Unordnung beiträgt.
Es geht um Glaubwürdigkeit.
Es geht um Solidarität.
Es geht um Verantwortung.
Auch deshalb halte ich diesen einen Abschnitt aus der Präambel der UN-Nachhaltigkeitsagenda für eine der wertvollsten und schönsten Visionen, die je von der internationalen Staatengemeinschaft geäußert wurde.
Fast lutherisch heißt es da:
„Wir sehen eine Welt vor uns, in der die Menschenrechte und die Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und die Nichtdiskriminierung allgemein geachtet werden; in der Rassen, ethnische Zugehörigkeit und kulturelle Vielfalt geachtet werden; und in der Chancengleichheit herrscht, die die volle Entfaltung des menschlichen Potenzials gewährleistet, und zu geteiltem Wohlstand beiträgt.“
All das mag utopisch klingen.
Doch wo, wenn nicht hier, in Wittenberg, in diesem Gebäude, in dieser Kirche, soll man doch daran glauben, dass derart wunderbare Visionen noch wahr werden, Visionen als das Noch-Nicht Seiende wie Ernst Hoch es beschreibt, dass wir ihnen zumindest ein wenig näher rücken können, wenn wir uns nur den Dreiklang aus ganz alltäglichem Handeln in globaler Verantwortung und auf Grundlage der universellen, der unteilbaren und unveräußerlichen Menschenrechten stets in Erinnerung rufen.
Geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, wir müssen im Gedächtnis behalten, dass nachhaltige Entwicklung, dass die Reformation der Einen Welt bei uns beginnt, um sich in unserer Politik nach außen fortzusetzen und zu potenzieren.
Dieses Zusammendenken von einem „hier“ und dem „weltweit“ wird eine der großen Zukunftsaufgaben sein.
Und diese Zukunft, ich hoffe, das heute ein wenig mehr beleuchtet zu haben, sie beginnt nicht morgen, sie ist längst in vollem Gange – und wir alle haben darin unser Päckchen Verantwortung zu tragen und wollen es tun mit Kraft und Mut und mit großem Herzen!
Vielen Dank.
Oder wie man bei mir zuhause sagt: Vergelt‘s Gott.