Im Bundestag laufen die Beratungen zum kommenden Haushalt. Claudia Roth sprach zum Thema Entwicklungspolitik und kritisierte die fehlende Neubewertung der globalen Lage durch die Bundesregierung und sprach von einer „großen Leerstelle“ im Koalitionsvertrag. Stattdessen warb sie für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, die bei uns selber ansetzt, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Vom G7-Gipfel in Ellmau müsse ein positives Signal ausgehen, dass die großen Industriestaaten bereit sind, in Vorleistung zu treten und voran zu gehen, so Roth. Außerdem sei es zentral, die beiden großen Prozesse – die Post 2015-Agenda und die Klimaverhandlungen – zusammen zu führen und zusammen zu denken.
Drei zentrale Forderungen für die Prozesse und den Gipfel des kommenden Jahres betreffen:
- den politischen Willen für eine völkerrechtlich verbindliche Klima- und Gerechtigkeitspolitik;
- das Bekenntnis zu einer nachhaltigen Gesellschaft, die sich vom Verbrauch fossiler Rohstoffe entkoppelt, die schädliche Subventionen abbaut und die ihre Politikfelder aufeinander abstimmt;
- und ehrliche Aufwuchspläne zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung, die dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten (Common but differentiated responsibilities, CBDR) entsprechen.
Die Rede im Wortlaut:
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Gerd Müller! Lieber Thilo Hoppe auf der Tribüne!
Welchen Anspruch hat die Entwicklungspolitik, und welchen Anspruch haben wir als Deutscher Bundestag an die Entwicklungspolitik?
Die Welt hat sich gedreht, viel schneller, viel weiter und viel radikaler, als wir gedacht, gehofft oder erwartet haben. Wo die Herausforderungen wachsen, braucht es eine nachhaltige Entwicklungspolitik, die aber auch bei uns selber ansetzt, bei unserer Landwirtschaft, bei unserer Infrastruktur und bei unserem Konsum; denn gerade unsere Lebens- und Wirtschaftsweise hat enorme Auswirkungen auf die globale Entwicklung.
Deshalb müssen auch wir uns ändern, wenn wir über Entwicklungspolitik sprechen. Genau das ist das Herausfordernde und Spannende bei den SDGs, den Nachhaltigkeitszielen. Wir erkennen an, dass in diesem Sinne auch Deutschland ein Entwicklungsland ist.
Wir stehen vor dem Ende bislang wie in Stein gemeißelter weltpolitischer Gewissheiten; denn die Welt, wie wir sie heute erleben, hat sich dramatisch verändert. Es ist eine Welt – darauf haben alle hingewiesen –, in der neue Krisen und Konfliktformen ausbrechen. Es ist eine Welt, in der wir ein gigantisches Marktversagen haben, das zur Klimakrise, zur Finanzkrise und zum Verlust von Biodiversität geführt hat. Es ist eine Welt, in der soziale Ungleichheit quer durch alle Staaten geht und eine neue globale Mittelschicht nach denselben Konsummustern strebt, die wir auch hier bei uns in Europa haben. Aber mit einer solchen Art des weltweiten Konsums würden wir die Erde zugrunde richten.
Es ist also höchste Zeit, dass wir eingestehen, dass die gängigen Beschreibungen von reich und arm, von West und Ost, von entwickelt und unterentwickelt so nicht mehr tragen. Das wird doch augenscheinlich bei über 55 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, augenscheinlich angesichts entgrenzter Gewalt, wie wir sie in Syrien, im Irak, in Afghanistan, im Kongo bis nach Mexiko erleben, angesichts der verdrängten, der vergessenen Konflikte im Südsudan oder in der Zentralafrikanischen Republik.
Aber diese notwendige Neubewertung der globalen Lage, mit Verlaub, lieber Gerd Müller, die fehlt mir in der Politik der Bundesregierung. Sie ist wirklich eine große Leerstelle im Koalitionsvertrag.
Zwei Prioritäten stehen für uns im Mittelpunkt: erstens, dass Strukturen für einen Durchbruch für globale Gerechtigkeit und Klimaschutz geschaffen werden, und zweitens, Antworten zu finden, ja, nachhaltige Antworten zu finden auf die humanitären Katastrophen und Tragödien unserer Zeit.
Menschen überall auf der Welt legen große Hoffnungen in das Jahr 2015, in den Erfolg der Klima- und Nachhaltigkeitsverhandlungen. Sie hoffen darauf, dass endlich eine wirkliche globale Vernetzung entsteht, dass eine Zusammenarbeit entsteht, bei der es nicht um Geld für die Banken und die Großkonzerne geht, sondern um eine Zusammenarbeit, in der wir als Weltgemeinschaft unsere Zukunft gemeinsam gestalten. Genau dies spiegelt sich eben nicht in der Strategie der Bundesregierung, spiegelt sich nicht in diesem Haushalt wider.
Natürlich ist es richtig, dass Entwicklungszusammenarbeit Hunger bekämpfen muss. Ich bin übrigens sehr gespannt, was aus diesen „Grünen Zentren“ wird. Aber Entwicklungszusammenarbeit heißt nicht länger – das hätte es eigentlich nie heißen sollen –, dass den armen Ländern im Süden paternalistisch hier und dort etwas gegeben wird, Geschenke, die uns nicht wehtun, den Empfängern wenig helfen, aber bei unseren Wählern gut ankommen. Ich erwarte wirklich viel, ich erwarte mehr von Ihnen, Gerd Müller. Ich erwarte, dass Sie einen effektiven Beitrag zur globalen Gerechtigkeit leisten, zum dringend notwendigen Umbau der Weltwirtschaft, zur sozialökologischen Transformation. Bauen Sie Ihr Haus um zu einem Ministerium für globale Strukturpolitik! Nur so kommen Sie wirklich aus Ihrer Rolle als Feigenblatt dieser Bundesregierung heraus.
Ja, es ist wirklich gut, dass die Zukunftscharta mit der Einbeziehung der Zivilgesellschaft auf den Weg gebracht wird. Aber wenn die Großkonzerne nicht mitmachen und wenn die Ministerien kommen – einige waren da –, aber dann doch weitermachen wie bisher – ich zumindest habe Sigmar Gabriel nicht von Fairhandel reden hören; auch bei der Kanzlerin, die heute Morgen sehr intensiv das Thema Handelspolitik und Freihandelspolitik in ihrer Rede behandelt hat, ist Fairhandel noch nicht angekommen –, dann droht diese Initiative wie andere zu reiner Symbolpolitik zu werden, und das können wir uns alle nicht leisten.
Es ist eine zentrale Aufgabe der Bundesregierung und auch Ihre Aufgabe, Gerd Müller, dass das nächste Jahr, das Jahr der großen Gipfeltreffen – beinahe ein Schicksalsjahr in vielen Bereichen –, ein Signaljahr für eine andere, für eine hoffnungsvolle Zukunft wird. Deutschland als Wirtschaftsmacht, als einflussreiches Land in der EU ist dafür entscheidend. Es müssen klare Zeichen vom G-7-Gipfel in Elmau ausgehen, dass Deutschland eine Vorreiterrolle einnimmt und nicht blockiert. Nur so kann Addis Abeba, kann Paris, kann New York wirklich zum Erfolg werden. Ein Scheitern können wir uns wirklich nicht leisten.
Es braucht also den politischen Willen für eine völkerrechtlich verbindliche Klima- und Gerechtigkeitspolitik. Es braucht das Bekenntnis zu einer nachhaltigen Gesellschaft, die sich vom Verbrauch fossiler Rohstoffe entkoppelt, die schädliche Subventionen abbaut und die ihre Politikfelder aufeinander abstimmt, und es braucht zusätzliche Mittel zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung, die dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten entsprechen; denn sonst scheitert schon Addis Abeba, und dann wird das ganze Jahr zum Riesenproblem.
Davon haben Sie sich, liebe Bundesregierung, lieber Gerd Müller, mit diesem Haushalt aber eigentlich fast verabschiedet; denn 1 Prozent Aufwuchs reicht vorne und hinten nicht.
Weil das nicht reicht, mache ich mir um die zweite Priorität wirklich große Sorgen. Ich nehme Ihnen absolut ab – ich kenne Sie gut –, dass Ihnen das Schicksal der Flüchtlinge echt ans Eingemachte geht. Sie fahren ja auch dahin, wo es wehtut. Aber wie verhindern Sie bei dieser Haushaltslage, dass bei der nächsten Katastrophe die notwendige Aufmerksamkeit für die Flüchtlinge nicht mehr da ist, weil sie in Vergessenheit geraten sind? Da hat mein Kollege von der Linkspartei recht. Wie sieht es im nächsten Jahr, wie in zehn Jahren aus? Sie wissen, Zaatari ist eine Flüchtlingsstadt, die auf mindestens zehn Jahre angelegt ist.
Wie sieht nicht zuletzt eine humanitäre Flüchtlingspolitik aus, die auf Politikkohärenz basiert, wo also BMZ, Auswärtiges Amt und das Innenministerium an einem Strang ziehen? Wie sieht die Vernetzung der Ministerien aus? Es braucht eine signifikante Erhöhung der Mittel für humanitäre Hilfe. Es braucht aber vor allem eine Verzahnung von Entwicklungszusammenarbeit mit unmittelbarer Nothilfe.
Das sind hohe Ansprüche, lieber Gerd Müller, aber daran werden wir Sie messen.