Noch bis zum 16. Oktober treffen sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus 164 Mitgliedsparlamenten zur 131. Versammlung der Interparlamentarischen Union (IPU) in Genf. Claudia Roth hat als Mitglied der von Bundestagspräsident Norbert Lammert geleiteten deutschen Delegation zum Thema „Geschlechtergerechtigkeit erreichen und Gewalt gegen Frauen beenden“ gesprochen.
Die Rede im Wortlaut:
(Es gilt das gesprochene Wort)
Lieber Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
„Wir können nicht siegen, wenn die Hälfte der Menschheit nicht im Spiel ist.“
So brachte es die Direktorin von UN WOMEN (Phumzile Mlambo Ngcuka) kürzlich auf den Punkt.
Doch auch, wenn diese Erkenntnis nicht wirklich neu ist – muss sie offenbar immer noch und immer wieder in die Welt gerufen werden.
Der Kampf für die Gleichberechtigung von Frauen hat eine lange Geschichte, und auch wir Frauen hier in der Politik wissen, was dieser Kampf auch ganz persönlich bedeuten kann.
Heute stehen weltweit Parlamentarierinnen vor ihren Kolleginnen und Kollegen, vor ihrem Hohen Haus, und setzen sich für eine vollständige Gleichberechtigung von Frauen ein.
Im Juni war ich beispielsweise in Ruanda, wo die Frauen eine Quote erkämpft haben und nun über 50 Prozent der Parlamentarier Frauen sind.
Die Quote konnte dort viel bewirken, auch wenn noch nicht überall in der ruandischen Gesellschaft Frauen wirklich als Gleiche behandelt werden.
Ich betone den Hinweis auf eine Quote, weil sie ein gutes Instrument sein kann, Chancen für Frauen zu schaffen, damit aber auch gleichzeitig für das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft.
Chancen für Frauen sind also gleichzeitig ein Gebot der Gerechtigkeit sowie ein Gebot der gesellschaftlichen Vernunft.
Denn sie ermöglichen eine gesunde Gesellschaft, eine gut ausgebildete Gesellschaft und eine Gesellschaft, in der die Armut bekämpft werden kann.
Aber Gleichzeitig erleben wir etwas Ungleichzeitiges.
Während Frauen im weltweiten Vergleich noch nie zuvor in der Geschichte so viele Rechte genossen, werden weiterhin in einigen Gegenden Frauen ihrer grundlegendsten Rechte beraubt – und das fängt meist schon in der Kindheit an.
Wenn wir – und ich glaube, da sind wir uns alle einig – die Gleichberechtigung von Frauen als Chance begreifen, dann müssen wir damit auch sehr früh anfangen:
Denn ohne eine
- Be-Rechtigung,
- ohne eine Ermächtigung,
- ohne die Gleichbehandlung schon von Mädchen,
- werden auch Frauen keine Chance haben.
In vielen Ländern ergeht es den Mädchen schlechter als den Jungen, auch und ganz besonders in Konfliktgebieten,
- wenn sie Opfer systematischer Vergewaltigungen werden,
- oder wenn sie verschleppt und zwangsverheiratet werden,
- wie wir es gerade von den Opfern der Terrororganisation ISIS erfahren.
Ein Vorgehen, das nichts, aber auch gar nichts mit dem Islam oder irgendeiner anderen Religion zu tun hat!
Aber auch außerhalb von Konfliktgebieten haben Mädchen es oftmals sehr viel schwerer als Jungen und werden Mädchen schlecht behandelt:
Mädchen wird z.B. das Recht auf Gesundheit genommen,
- wenn sie genitalverstümmelt werden,
- wenn sie drei Mal so häufig wie Jungs an Mangelernährung sterben,
- oder wenn ich die entsetzliche Zahl lese, dass in Entwicklungsländern die häufigste Todesursache von jungen Frauen zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr eine Schwangerschaft ist – meist ungewollt und viel zu früh.
Mädchen wird das Recht auf Bildung genommen,
- wenn sie nicht zur Schule gehen dürfen, weil sie Hausarbeit verrichten müssen,
- wenn sie in der Schulklasse diskriminiert werden,
- oder wenn sie in der Schule nur kurz und nach überholten Stereotypen unterrichtet werden.
Und Mädchen wird vielerorts sogar das Recht auf Leben, das Recht auf Geburt genommen:
- Weltweit fehlen rund 100 Millionen Frauen in der Bevölkerungsstatistik,
- meist, weil in Ländern wie China, in Indien, in Aserbaidschan, Vietnam, Südkorea und Albanien weibliche Föten gezielt abgetrieben werden,
- weil die Gesellschaft und damit auch die einzelnen Familien Söhne bevorzugen.
Die Journalistin Mara Hvistendahl spricht bereits vom Verschwinden der Frauen durch diese Form der selektiven Geburtenkontrolle.
Und deswegen war es ein überfälliger Schritt, als die Vereinten Nationen vor drei Jahren beschlossen haben, den 11. Oktober zum Weltmädchentag zu erklären.
Ich freue mich, dass damals auch Deutschland durch einen interfraktionellen Antrag im Bundestag die Einrichtung dieses Tages unterstützt hat.
Denn Mädchen haben besonders zu leiden, aber sie haben auch ein besonderes Potential.
Die Nichtregierungsorganisation PLAN rechnet vor, dass mit einer Steigerung von nur einem Prozent der Mädchen, die eine Sekundarschule besuchen, das Bruttoinlandsprodukt bereits um 0,3 Prozent steigt.
Schon diese Zahl macht deutlich, welch große Bedeutung und welches Potential für die Entwicklung von Gesellschaften von Mädchen ausgeht.
Mit Blick auf das UN-Jahr der Entwicklung 2015,dem Jahr, in dem die Vereinten Nationen über die globalen Nachhaltigkeitsziele diskutieren sehe ich jedoch noch keinen bahnbrechenden Vorschlag der internationalen Gemeinschaft, wie Mädchen weltweit besser gefördert werden können.
Wir brauchen hierfür dringend ein Programm und ein koordiniertes Vorgehen auf internationaler Ebene.
Mädchen müssen in der Debatte um die nachhaltige Entwicklungsagenda im kommenden Jahr eine zentrale Rolle einnehmen,
- wenn wir das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung wirklich erreichen wollen.
- Dabei die Hälfte der Menschen am Seitenrand stehen zu lassen, würde dieses Ziel unerreichbar machen, und wäre sträflich und fahrlässig.
Lassen sie uns also heute und von hier aus ein Zeichen senden, dass wir gemeinsam bereit sind, die Probleme und die Chancen von Mädchen endlich weltweit ins Zentrum der Aufmerksamkeit und ins Zentrum der Politik zu stellen!
Vielen Dank!