Am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts besuchte Claudia Ruth die KZ-Gedenkstätte Dachau. Beim Zeitzeugengespräch der Stadt Dachau mit Ruth Melcer durfte sie das folgende Grußwort halten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
werter Oberbürgermeister Florian Hartmann,
liebe Freundinnen und Freunde,
vor allem aber:
meine sehr verehrte Ruth Melcer!Ich muss zugeben,
es fällt mir nicht gerade leicht,
dieses Grußwort zu sprechen –
nach einem so eindrucksvollen Nachmittag in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ hier in Dachau,
an einem so bedeutsamen Jahrestag wie dem 27. Januar.Zugleich ist es mir eine große Ehre,
Sie, Frau Melcer, endlich persönlich kennenzulernen.
Von Ihrer Geschichte hatte ich bereits gelesen,
auch von Ihrem wunderbaren Kochbuch,
und nun sitzen Sie da,
zugewandt und nahbar,vor allem aber fest entschlossen,
in turbulenten Zeiten das zu tun,
was nur noch wenige können:
berichten von der damaligen Zeit,
warnen und zugleich ermutigen.Und diese damalige Zeit, ja:
eine gesamte Zeitrechnung endete heute vor genau 74 Jahren.
Damals,
am 27. Januar 1945,
stieß die Rote Armee ein Tor auf.Es war der Eingang zum monströsesten Ort in einem ohnehin monströsen System,
die Pforte zu einer Hölle namens Auschwitz.DIESMAL aber sollte das Tor nicht wieder verschlossen werden,
es blieb geöffnet,
ermöglichte den wenigen Überlebenden –
darunter einem kleinen blondgelockten Mädchen namens Ruth Melcer,den Weg hinaus,
zurück in die Menschlichkeit,
und wies diesem Land den schwierigen Pfad zu Aufarbeitung und Versöhnung.Es war in diesem Moment,
da zwei Worte ihren Ursprung nahmen:
nie wieder.Und dieses NIE WIEDER,
dieser Auftrag an uns alle,
setzt zwei Dinge voraus:dass wir das Wissen um die Gräuel der NS-Diktatur erhalten und vermitteln;
und dass wir uns erinnern,
immer und immer wieder –
nicht etwa der alleinigen Rückschau halber,
sondern als Erinnern in die Gegenwart,
als Erinnern in die Zukunft.Beides wollen wir heute tun,
hier in Dachau,
und beides erscheint mir wichtiger denn je.Denn sie werden mehr,
diejenigen,
für die „Jude“ oder „Schwuler“ oder „Zigeuner“ wieder alltägliche Schimpfworte sind.Sie werden lauter,
jene Kräfte,
die einen Schlussstrich ziehen wollen,
wo es keinen geben kann;Kolleginnen und Kollegen auch im Bundestag,
der Herzkammer unserer lebendigen und streitbaren Demokratie,
die den Holocaust als „wirksames Instrument zur Kriminalisierung der Deutschen“ bezeichnen und der Meinung sind,
eben dieser Holocaust werde „jeder freien Geschichtsforschung“ entzogen.Sie wähnen sich im Aufwind,
all jene Gruppierungen,
die wieder bestimmen wollen,
wer dazugehört und wer nicht –
zu einem exklusiven Klub,
einem einförmigen,
einem grauen „Volk“ statt jener vielfältigen,
bunten Bevölkerung,
diesem starken WIR ALLE,
das unser Land doch längst prägt und reich macht.Umso mehr tragen WIR,
Demokratinnen und Demokraten gleich welcher politischen Überzeugung,
tragen wir ALLE Verantwortung –
die Verantwortung nämlich,
das kollektive Gedächtnis kontinuierlich zu erneuern und uns all jenen,
die das Vergessen einfordern,
mit aller Kraft entgegenzustellen.Liebe Freundinnen und Freunde,
werte Gäste,
meine Eltern haben mich bereits früh als Kind nach Dachau mitgenommen.Ich habe damals nicht verstanden,
was hier passiert war –
meine Eltern vermutlich auch nicht.Heute aber verstehe ich,
und dieses Verständnis formt den unbedingten Willen,
jeden Angriff auf unsere Erinnerungskultur,
jeden Versuch der Geschichtsklitterung,
jeden noch so kleinen Ansatz einer Relativierung der Naziverbrechen ernst zu nehmen,
nicht stillschweigend hinzunehmen,
sondern abzuwehren.Was einige Kräfte nämlich vorantreiben,
ist kein Spiel,
ist kein Geplänkel,
das sich „entzaubern“ oder von allein enden wird –
sondern ein gezielter Angriff auf die Grundlagen unserer Demokratie,
auf Moral und Ethik,
auf den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.Wort für Wort,
Satz für Satz wird da die Grenze des Sagbaren verschoben.
Nach dem Sagbaren aber kommt das Machbare,
dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den Menschen.Eignen wir uns deshalb an,
was sich auch Ruth Melcer einst geschoren hat –
damals,
vor 74 Jahren,
in der Kutsche,
die sie von Auschwitz nach Krakau brachte:
„Ich lasse mir nichts mehr gefallen.“Mit anderen Worten,
und so schließt sich der Kreis:
nie wieder.