Der Bundestag hat sich gestern in einer von der Grünen Bundestagsfraktion beantragten Aktuellen Stunde mit der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei befasst. In ihrer Rede erinnerte Claudia Roth an die zahlreichen verfolgten Journalistinnen und Journalisten in der Türkei. Sie brauchten nicht „das stillschweigende Wegducken Europas und der Bundesregierung, sondern eine laute Stimme der Kritik und deutliche Unterstützung“, so Roth.
Sie nannte unter anderem die Namen von Can Dündar und Erdem Gül von der Cumhuriyet, die wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten verurteilt worden waren und denen jetzt hohe Strafen wegen angeblicher Spionage und Unterstützung einer terroristischen Organisation drohen. Sie verwies auch auf Cevheri Güven und Murat Capan von der Nokta, die wegen angeblicher Putschpläne angeklagt seien. Laut Roth gebe es mittlerweile eine „systematische Kriminalisierung“ nicht mehr nur für Journalisten aus oder in der Türkei, es seien mehr und mehr auch ausländische Korrespondenten von Repression in ihrer Arbeit betroffen.
Bei der Kritik gehe es jedoch nicht um ein antitürkisches Ressentiment. Kritik heiße nicht, alle Türen zuzuschlagen. Es gehe darum, diejenigen Kräfte zu unterstützen, „die eine demokratische Türkei wollen, die eine europäische Türkei wollen, die keine islamische Türkei und keine Verfassungsänderung wollen.“ Doch genau bei den demokratischen, pro-europäischen Kräften sei nun der Eindruck entstanden, Deutschland und Europa hätten sie vergessen und ließen sie allein. Das sei wirklich verheerend, so Roth.
Roth erneuerte auch ihre Kritik an dem zwischen der EU und der Türkei geschlossenen Flüchtlings-Abkommen. Dieses komme nicht nur der EU und Deutschland, sondern auch der Türkei teuer zu stehen, von den Flüchtlingen ganz zu schweigen. Die Folgen seien nicht Stabilität und Frieden, sondern die Unterstützung für einen „Destabilisator in einer gefährlich instabilen Region, ein Autokrat, der polarisiert, der spaltet, der kriminalisiert, der beleidigt, der neue Fluchtursachen schafft und der so längst auch der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei massiv schadet.“
Die Rede im Wortlaut:
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!Worum geht es? Es geht um die Pressefreiheit, also um das unzensierte Veröffentlichen von Informationen und Meinungen. Es geht darum, Fakten zu recherchieren, Licht ins Dunkel zu bringen und die Kontrolle der Regierung erst zu ermöglichen. Es geht um nichts weniger als um das Grundnahrungsmittel in der Demokratie. Aber auch die Kunst, auch die Satirefreiheit – sie machen uns reich, sie müssen respektiert und geschützt werden als universelles Recht, also bei uns und bei unseren Partnern.
Was ist die Realität bei unserem Partner Türkei? Entrechtung des Rechts, Freiheit im freien Fall, systematischer Abbau der Demokratie. Wer in der Türkei objektiv und kritisch berichtet und damit auch die dunklen Räume des AKP-Regimes erhellt, der lebt in Angst und Gefahr, wenn es um die Abschiebung von Flüchtlingen nach Syrien geht, wenn es über die geheimen Waffenlieferungen der Regierung an Islamisten zu berichten gilt, wenn die Situation in den kurdischen Städten, in denen ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt wird, Thema ist.
Aber wir vergessen sie nicht: Can Dündar und Erdem Gül von der Cumhuriyet, die wegen Beleidigung des Staatspräsidenten verurteilt worden sind und denen jetzt hohe Strafen wegen angeblicher Spionage und Unterstützung einer terroristischen Organisation drohen. Wir vergessen sie nicht: Cevheri Güven und Murat Capan von der Nokta, angeklagt wegen angeblicher Putschpläne. Ihr Verbrechen: ein Titelblatt zum Bürgerkrieg im Südosten der Türkei. Abdülhamit Bilici, ehemaliger Chefredakteur der auflagenstärksten Zeitung, der Zaman: Ihm wird die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen, seine Redaktion wurde gestürmt und unter Zwangsverwaltung gestellt, genauso wie die des Medienkonzerns Koza-Ipek und die von Fernsehsendern wie Bügün und Kanaltürk.
Inzwischen gilt aber diese systematische Kriminalisierung nicht mehr nur für Journalisten aus oder in der Türkei; es sind mehr und mehr auch ausländische Korrespondenten von Repression in ihrer Arbeit betroffen. Ich will auch sie benennen: Volker Schwenck, David Lepeska, Ebru Umar, Giorgos Moutafis und Hasnain Kazim. Sie, wie die 2 000 Personen, die in der Türkei derzeit wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten angeklagt sind, brauchen kein stillschweigendes Wegducken, sie brauchen unsere laute Stimme der Kritik. Vor allem brauchen sie unsere deutliche Unterstützung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer soll uns denn in Zukunft darüber informieren, was los ist in dem Land, dem wir nun das Schicksal von Millionen von geflüchteten Menschen anvertrauen? Oder reicht uns etwa eine von der türkischen Regierung inszenierte Potemkin’sche Politshow in aufpolierten Flüchtlingslagern aus?
Bei der Kritik an Erdogan ‑ das ist uns sehr wichtig ‑ oder der Kritik an der türkischen Regierung geht es aber nicht um ein antitürkisches Ressentiment. Kritik heißt nicht: „Schlagt alle Türen zu!“; denn Erdogan ist nicht die Türkei. Es geht stattdessen darum, diejenigen Kräfte zu unterstützen, die eine demokratische Türkei wollen, die eine europäische Türkei wollen, die keine islamische Türkei und keine Verfassungsänderung wollen. Doch genau bei den demokratischen, europäischen Kräften ist nun der Eindruck entstanden, Deutschland und Europa hätten sie vergessen und ließen sie allein. Das ist wirklich verheerend. Deshalb: Lassen wir sie nicht im Stich! Verkaufen wir sie nicht für einen gefährlichen Deal mit Erdogan, der uns und die Türkei teuer zu stehen kommt, von den Flüchtlingen ganz zu schweigen. Mit diesem Deal wird doch nicht Stabilität, nicht Frieden unterstützt, sondern ein Destabilisator in einer gefährlich instabilen Region, ein Autokrat, der polarisiert, der spaltet, der kriminalisiert, der beleidigt, der neue Fluchtursachen schafft und der so längst auch der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei massiv schadet. All das kann doch überhaupt nicht in unserem Interesse sein. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir uns ‑ nicht zuletzt in Erinnerung an den ermordeten Journalisten Hrant Dink ‑ wenigstens einigen konnten, zum Genozid an den Armeniern ein klares gemeinsames Zeichen zu setzen.
Vielen Dank.
Sollten Sie Probleme mit der Darstellung haben, können Sie das Video der Rede auch unter www.bundestag.de abrufen.