Künstlerinnen und Künstler aus der freien Szene und den Kultureinrichtungen engagieren sich Jahr für Jahr und weit über die Kunst hinaus. Sie zeigen, was Kunst kann, auch dort, wo Sprache noch fehlt, helfen dabei, Vertrauen zu schaffen und damit im wahrsten Sinne des Wortes Heimat zu ermöglichen. Claudia Roth nutzte die Gelegenheit, der Freien Szene für ihr vielfältiges Engagement für Geflüchtete in den letzten Monaten anlässlich der Verleihung des 8. George-Tabori-Preises Ende Mai im Berliner HAU – Hebbel am Ufer zu danken. Sie würdigte in ihrer Rede das Potential der Künstlerinnen und Künstler und gratulierte den Nominierten und Preisträgerinnen persönlich. Den Hauptpreis erhielt in diesem Jahr die Hamburger Medien- und Performancegruppe LIGNA, zudem würdigte die Jury das Hildesheimer Theaterkollektiv Markus&Markus mit dem Förderpreis.
Grußwort von Claudia Roth anlässlich der Preisverleihung
(Es gilt das gesprochene Wort!)
Liebe Annemie Vanackeren,
liebe Ilka Schmalbauch,
lieber Holger Bergmann,
lieber Steffen Klewar,
liebes Team des Hebbel-Theaters,
liebe Künstlerinnen und Künstler, liebe Theaterfreundinnen und -freunde,
liebe Freundinnen und Freunde der Kunst,
liebe sicher aufgeregte Nominierte!Was für eine Ehre, was für eine riesengroße Freude, heute hier zu sein, hier bei Ihnen – meiner alten Familie – und der Verleihung der bundesweit höchsten Auszeichnung für Ensembles sowie Künstlerinnen und Künstler aus der freien Theaterszene beiwohnen zu dürfen.
Sie wissen, dass ich dem Theater aus tiefsten Herzen bis heute eng verbunden bin. Und ich bedauere es, dass es der Alltag in der Politik viel zu selten erlaubt, einzutauchen in diese, in Ihre wunderbare Welt – um Kraft und Mut zu schöpfen, um das Träumen, die Vision nicht zu verlieren, ganz im Sinne von Brecht: „Ändere die Welt, denn sie braucht es“.
In gewisser Weise ist aber auch meine heutige Funktion als Politikerin recht „performance-nah“ – nicht ohne Grund sage ich immer wieder, dass ich die Bühne eigentlich nie wirklich verlassen habe.
Das gilt umso mehr, als es in meinen Augen in der Politik ebenso sehr wie bei der Performance darum gehen sollte, nicht nur etwas vorzutäuschen oder eine leere Show abzuziehen, sondern vielmehr in einer Rolle, in einem Akt des Darstellens und Zeigens etwas Wesentliches zu transportieren; kein Schmierentheater abzuziehen, sondern ein wichtiges Anliegen so zur Darstellung zu bringen, dass es Menschen bewegt – um damit zur konkreten Bearbeitung und Problemlösung beizutragen, aber auch zur Mobilisierung, zum Einmischen zu bewegen.
Zugleich vermag die Kunst, just in den Momenten, da die politischen Kanäle abgeschnitten sind, Werte zu vermitteln – Werte, die uns wichtig und von denen wir überzeugt sind, dass sie die Welt zu einem besseren Ort machen.
Es sind die Werte einer toleranten, einer vielfältigen, einer offenen Gesellschaft, die Demokratie und Menschenrechte, die Frieden und Entwicklung, die internationale Kooperation und Solidarität in den Mittelpunkt stellt.
Natürlich richtet sich die Kunst damit nicht so sehr an ganze Gesellschaften oder an Regime oder an bestimmte Machtkonstellationen, aber sie stellt den Menschen in seiner Einzigartigkeit, seine Werte, seine unveräußerlichen Rechte, seine Entwicklung in den Mittelpunkt.
Und auf diesem Wege, indem die Kunst, indem auch das Theater die Köpfe und die Herzen erreicht, kann es ganze Welten verändern.
Es hat mich daher wirklich sehr berührt, zu erleben, welche Rolle das Theater, welche Rolle die vielen Kulturschaffende in Deutschland – egal ob aus den Institutionen oder der freien Szene – in den letzten Monaten gespielt haben.
Weit über Ihre eigentliche Rolle hinaus haben Sie sich positioniert, haben künstlerisch reagiert – landauf, landab.
Sie haben sich positioniert gegen die Versuche von Rechtspopulisten, die kulturelle Vielfalt auf den Bühnen in Frage zu stellen – war da doch bei der AfD gern auch mal von „zu buntem Agitprop-Repertoire mit Regenbogen-Willkommens-Trallala“ die Rede, von „entarteter Kunst“ gar, und dem altbekannten Wunsch nach deutscher Kunst auf deutschen Bühnen.
Sie haben sich positioniert mit einem vielfältigen Angebot, auch weit über die eigentliche Theaterarbeit hinaus.
Tagtäglich haben sich Theater, freie Ensembles, freie Künstlerinnen und Kulturschaffende auf ihre ganz eigene Weise insbesondere für Geflüchtete eingesetzt, und tun das weiterhin, von Wilhelmshaven bis München, von Augsburg über Bochum bis Cottbus, Dresden oder Rudolstadt.
Schauspielerinnen und Schauspieler warben da plötzlich auf der Bühne und auf Onlineplattformen um Spenden. Sie übernahmen Patenschaften für Geflüchtete – und redeten öffentlich darüber. In hunderten Theaterinszenierungen wurden die prägenden Erfahrungen von Flucht und Vertreibung mit denen inszeniert, die das eben erst am eigenen Leib erfahren hatten.
Etliche freie Theater machten sich auf in die Unterkünfte, um vor Ort mit Geflüchteten gegen die Alltagstristesse anzuspielen – so wie das heute für den Förderpreis nominierte, wunderbare „Boat People Projekt“ aus Göttingen.
Freie Künstlerinnen und Künstler sind aber auch in die großen Flüchtlingslager gereist, nach Jordanien zum Beispiel, und haben versucht, auch dort ein wenig Farbe, Musik und Fabel in den tristen Alltag insbesondere der Kinder zu bringen. Und da wird Kunst im wahrsten Sinne zum Grundnahrungsmittel.
Andere Theater boten derweil den geschützten Raum ihrer Häuser für den intimen Diskurs oder ganz pragmatische Integrationshilfen an – und wurden so gefühltes Zuhause für Menschen, die alles verloren hatten.
Im Hamburger Kampnagel kamen dutzende Lampedusa-Flüchtlinge unter, Künstlerinnen und Künstler machten Platz in ihren Ateliers und Wohnungen – für Menschen, die bis dahin in Zeltstädten hatten leben müssen.
Und nicht wenige Schauspielerinnen und Schauspieler begannen, in selbst-organisierten Kursen das weiterzugeben, was sie wie kaum andere in diesem Land beherrschen: die deutsche Sprache.
Sie alle hatte niemand darum gebeten; dennoch haben sie die Initiative ergriffen – und haben damit ganz entscheidend zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft in den letzten Monaten beigetragen.
Sie haben Gesicht gezeigt – das Gesicht eines herzenswarmen und solidarischen Deutschlands, das doch wieder so leicht entflammbar ist.
Bei alledem möchte ich natürlich überhaupt nicht die eigentliche – die großartige innovative künstlerische Theaterarbeit vergessen, die geleistet wird.
Flucht, Europa, Globalisierung: Es gibt wohl kein politisches Thema, das derzeit nicht dokumentarisch oder diskursiv auf die Bühne kommt.
Vielerorts – oft auch dort wo nicht jeden Tag das Feuilleton hinschaut – ist diese künstlerische Auseinandersetzung mit den höchst politischen Herausforderungen unserer Zeit fast selbstverständlich geworden.
Und sie hilft bisweilen ganz konkret, ganz unmittelbar: In München beispielsweise konnte die Schauburg durch das Engagement des afghanischen Musikers und Schauspielers Ahmad Shakib Pouya dessen Abschiebung rückgängig machen. Nach zwei Monaten in Kabul, die er aufgrund akuter Lebensgefahr weitestgehend im Verborgenen verbracht hatte, war es ausgerechnet eine Inszenierung von Fassbenders „Angst essen Seele auf“, die Pouya die Rückkehr nach Deutschland ermöglichte – die Rückkehr aus einem Land, das für niemanden sicher ist, schon gar nicht für kritische Künstlerinnen und Künstler.
Und auch in meinem Augsburg fand der wunderbare syrische Schauspieler Ramo Ali über das Junge Theater ins Leben zurück. Heute steht er im ganzen Land auf den Theaterbühnen.
Meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,George Tabori hat einmal gesagt: „Ich habe keine Heimat, in jedem Sinn des Wortes Heimat, nicht einmal einen Ruheplatz, außer dem Theater.“
Ahmad Pouya und Ramo Ali, etliche Kunstschaffende und Schauspieler, aber auch das Publikum, sie alle haben über das Theaterspiel auf ganz unterschiedliche Weise in den letzten Monaten ein Stück Heimat – wo du dazu gehörst, wo du gebraucht wirst – einen Ruheplatz wiedergefunden.
Das ist nicht zuletzt den zahlreichen Aktionen der freien Szene zu verdanken – teilweise, aber nicht zwingend in Zusammenarbeit mit den großen Häusern, in Kooperation mit Trägern aus der Sozialarbeit, der Soziokultur, mit den Kirchen.
Ich möchte deshalb die Chance nutzen, Ihnen allen von ganzem Herzen für dieses große Engagement zu danken!
Es war ein Engagement, das oft nach der eigentlichen Arbeit und ehrenamtlich geleistet wurde.
Ein Engagement, das – wie ich finde – von vielen Kolleginnen und Kollegen in der Politik etwas zu selbstverständlich hingenommen oder auch zu kritisch beäugt wurde.
Ein Engagement, das zugleich gezeigt hat, welches Potential wir freisetzen können, wenn wir den Künstlerinnen und Künstler in diesem Land den nötigen Raum geben.
Kunst nämlich kann, ja soll emotionalisieren, bewegen, kritisch beleuchten.
Kunst kann Zuflucht bieten – praktisch und empathisch – kann sogar therapeutisch wirken.
Kunst kann nicht nur ästhetisch die Herausforderungen unserer Zeit aufgreifen, sondern auch ganz praktisch wirken – da, wo Worte fehlen; da, wo Vertrauen und Verständnis verloren gegangen sind.
Kunst muss aber zugleich, das sollten wir nie vergessen, Kunst bleiben dürfen, darf nicht zum Politikersatz werden.
Spätestens hier stellt sich die Frage, unter welchen Umständen vor allem die freie Kunst stattfindet?
Anders ausgedrückt: Wie frei kann die freie Szene sein, wenn in weiten Teilen unter prekären Bedingungen, am Rande der Selbstausbeutung gearbeitet werden muss?
Ich glaube, hier besteht auch politisch größter Nachholbedarf. Wir müssen dringend faire Arbeitskonditionen für alle Kulturschaffenden ermöglichen, bei angemessener Vergütung,
unter tragbaren Rahmenbedingungen.
Wir brauchen aber auch die Teilhabe aller an einem breiten, vielfältigen Kulturangebot: Weder Wohnort noch Geldbeutel, Herkunft oder Handicap dürfen Menschen von kultureller Partizipation ausschließen.
Und wir brauchen die freie Szene noch stärker in der kulturellen Bildung, heute mehr denn je, denn kulturelle Bildung kann nicht frei genug sein, kann nicht zu früh ansetzen, und darf niemals enden.
Meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,es war und ist Anspruch der Kunst und auch des Theaters, sich zu virulenten gesellschaftlichen Themen zu verhalten, in aller Unabhängigkeit, bei aller kritischen Distanz – und natürlich mit dem Recht, es auch mal nicht zu tun.
Ja, die Kunst ist frei.
Das Ergebnis dieser Freiheit mag mir nicht immer gefallen, aber das liegt in der Natur von Freiheit, und die ist Demokratie.
Zugleich bringt künstlerische Freiheit aber auch stets gesellschaftliche Verantwortung mit sich.
Das gilt umso mehr, wenn die Kunst Gefahr läuft, instrumentalisiert zu werden.
Ich sehe da auch uns, die Politikerinnen und Politiker, in der Pflicht.
Wir müssen den Fluss nicht anschieben, wie George Tabori es ausgedrückt hat, denn er fließt von allein. Aber wir dürfen auch keine Staudämme bauen.
Vielmehr braucht es Brückenbauer – wie die sechs Projekte, die heute nominiert sind.
Bereits jetzt meinen herzlichen Glückwunsch allen Finalisten.
Danke Ihnen allen für die großartige Arbeit, das Opponieren, das Perspektive-Wechseln, den Widerstand, das Mitteln und Vermitteln.
Und erlauben Sie mir, mit einem letzten Tabori-Zitat zu enden: „Im Theater wie im Leben ist es nicht die Sprache, sondern der Sprecher, der die Bedeutung verleiht.“
Sprechen Sie weiter, laut und deutlich!