Seit Wochen warten vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) Hunderte Geflüchtete Tag und Nacht auf die Bearbeitung ihrer Anträge. Claudia Roth hat den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, in einem Brief aufgefordert, die unmenschliche und unwürdige Situation für die Menschen vor Ort schnellstmöglich zu beenden.
Berlin, 1. Dezember 2015
Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,
lieber Michael Müller,ich habe gestern am frühen Morgen das Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in der Turmstraße besucht. Nach den schockierenden Medienberichten über die verheerenden Zustände dort für die wartenden Geflüchteten wollte ich mir selbst ein Bild von der Situation der Menschen auf dem Gelände machen. Christiane Beckmann, ehrenamtliche Helferin der Initiative „Moabit hilft“, sowie Diözesancaritasdirektorin Prof. Dr. Ulrike Kostka haben mich vor Ort begleitet und mir wichtige Hintergrundinformationen und Erklärungen geben können, ich konnte mich mit vielen Geflüchteten an den unterschiedlichsten Wartestellen, mit Mitarbeitern der Security, des LaGeSos und auch der Polizei über die Situation und ihre Einschätzung unterhalten. Am Ende meines Besuchs fand auch ein längeres Gespräch mit dem Leiter des LaGeSos, Herrn Franz Allert, in seinem Büro statt.
Wie Sie vielleicht wissen, komme ich selbst aus Bayern. Ich habe dort sehr viele Flüchtlingsunterkünfte besucht, war in Passau und am Münchner Hauptbahnhof, als dort die vielen Menschen aus Ungarn und Österreich ankamen. Ich muss Ihnen sagen, dass ich dort nicht einmal zu Hauptstoßzeiten auch nur im Entferntesten vergleichbare Zustände gesehen habe, wie ich sie gestern am LaGeSo leider erleben musste.
Die Eindrücke, die ich während meines Besuches, durch die Gespräche mit den verschiedenen Menschen und durch bloße Anschauung der Lage gewonnen habe, sind erschreckend und einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft nicht würdig: hunderte, vielleicht auch tausende Menschen, die sich ohne jede Information durch Behördenmitarbeiter verzweifelt und nun auch unter widrigsten Witterungsbedingungen auf dem Gelände bewegen und umherirren, auf der Suche nach einer Möglichkeit, Gehör für ihr Anliegen zu finden. Frauen, Männer und (Klein)Kinder, Schwangere, Verletzte, Alte, Kranke und Behinderte, die völlig entkräftet und verzweifelt ihre Papiere den Mitarbeitern der Security zeigen, in der Hoffnung, Einlass in das Behördengebäude zu erlangen. Menschen, die stunden-, ja tagelang in Warteschlangen ausharren, zum Teil in Schlamm, Regen und Sturm, oder dicht gedrängt in abgesperrten Bereichen in Zelten oder in den Behördengebäuden, ohne Garantie, dass sich dieser Leidensweg für sie lohnt und sie es schaffen werden, bis zu einer Sachbearbeiterin oder einem Sachbearbeiter vorzudringen, die oder der sich ihres Falls annimmt. Oftmals werden sie für ihr Warten, für ihre Duldsamkeit und ihre Anstrengungen mit barschen Worten oder rüdem Anschreien durch die Sicherheitskräfte „belohnt“, oder sie werden, nach stundenlangem Warten, wieder abgewiesen mit dem Hinweis, es am nächsten Tag wieder versuchen zu müssen. Ihre einzige Hoffnung ist die Bürgerinitiative „Moabit hilft“ oder die Caritas, die staatliche Aufgaben übernehmen und im anziehenden Winter überlebensnotwendige Hilfe leisten.
Ich habe Menschen getroffen, denen es seit Wochen nicht gelingt, in das Gebäude zu gelangen oder geschweige denn zu einem Sachbearbeiter vorgelassen zu werden. In sehr vielen Fällen heißt das, dass diese Menschen ohne Unterkünfte bleiben und in der Obdachlosigkeit verharren, und dass sie ohne jede Einkünfte und Versorgung bleiben, weil sie keine Chance auf Bearbeitung ihrer Papiere haben. Nach Aussage von Herrn Allert sollte dieser Zustand nun zwar beendet sein, da die Reihenfolge, nach der die Menschen drankommen, nicht mehr danach ginge, wer zuerst in der Reihe steht, sondern danach, wer bereits am längsten auf die Bearbeitung seiner Angelegenheiten wartet. Doch ich habe auch Personen getroffen, denen bei jedem Besuch schriftlich ein neuer Termin ausgestellt wurde, ohne dass ihre Angelegenheiten jedoch jemals bearbeitet worden wären, so dass diese Menschen nicht einmal mehr beweisen können, dass sie bereits wochenlang auf ihre Bearbeitung warten und so weiterhin keine Chance haben, vorgezogen zu werden. Diese Situation ist kafkaesk.
Doch ich bin mir sicher, lieber Herr Regierender Bürgermeister Müller, Sie kennen all diese von mir beschriebenen Zustände allzu gut. Schließlich sind diese nicht neu, sondern dauern bereits seit Monaten an. Und schon am 12. November haben Sie sich in Ihrer Regierungserklärung im Berliner Abgeordnetenhaus dazu geäußert mit den Worten: „Wir haben dort unakzeptable Zustände. Ich will diese Bilder dauerhaft nicht mehr sehen.“ Es gibt diese Bilder leider immer noch und für die Menschen vor dem LaGeSo hat sich seitdem nichts gebessert.
Den Geflüchteten vor dem LaGeSo wird mitten in Deutschland, mitten in der Hauptstadt unseres doch eigentlich gut organisierten Landes die Menschenwürde genommen. Und das, nachdem diese Menschen oftmals in ihren Herkunftsländern, wo Krieg, Gewalt und Terror herrschen, und auf ihrer lebensgefährlichen Flucht ähnliche Erfahrung machen mussten und sich deswegen zu uns auf den Weg gemacht haben. Sie haben gehofft, in Deutschland nicht nur Sicherheit und Frieden, sondern auch eine menschenwürdige Behandlung und eine Perspektive für ihre Zukunft zu finden.
Doch in Berlin finden viele von ihnen das Gegenteil. Einzelne Personen, individuelle Persönlichkeiten mit ihren jeweils ganz unterschiedlichen Eigenschaften, Bedürfnissen, Talenten und Fähigkeiten werden durch die Situation, in die man sie auf dem Gelände des LaGeSo bringt, dazu gezwungen, in einer „Masse Mensch“ aufzugehen, die schreit, drückt, bettelt, weint und verzweifelt. Ich empfinde das wie eine koordinierte Verantwortungslosigkeit, Demütigung und Entwürdigung, was hier in Berlin stattfindet. Aber das darf doch von Ihnen, aber auch von uns allen als Mitmenschen nicht zugelassen werden, wenn wir Artikel 1 Grundgesetz ernst nehmen wollen, der uns nicht nur an die Unantastbarkeit der Menschenwürde erinnert, sondern auch aller staatlichen Gewalt die Verpflichtung auferlegt, diese zu achten und zu schützen.
Viele der Geflüchteten fühlen sich angesichts eines solchen Systems ohnmächtig, hilflos und wie in einem Albtraum gefangen. Auch besteht die Gefahr, dass wir Menschen, die wir tage-, wochen- oder teils monatelang ohne Betreuung, ohne Chance auf Gehör und ohne Versorgung ihrem Schicksal in einer für sie fremden Umgebung und der Demütigung eines unmenschlichen Systems überlassen, an jene viel beschworenen „Parallelgesellschaften“ aus Kriminalität und Extremismus verlieren, welche ihre Regierung – wie die Regierungen aller Bundesländer – doch besonders vermeiden wollen. Am LaGeSo geht es also nicht nur um das Schicksal und die Würde hunderter geflüchteter Menschen, sondern auch um die Zukunft und die Lebensqualität der Großstadtgesellschaft Berlins.
Ich bitte Sie deshalb inständig und appelliere an Ihre Mitmenschlichkeit und Ihre politische Verantwortung: Beenden Sie diese unmenschliche und unwürdige Situation für die Menschen am Berliner LaGeSo und sorgen Sie dafür, dass all diese Menschen zeitnah ihre Papiere, eine Unterkunft und ihre Geldleistungen erhalten. Machen Sie Gebrauch von der Flexibilität, welche Bundeskanzlerin Merkel von uns allen in dieser Situation eingefordert hat, und leisten Sie unbürokratische, schnelle und menschliche Hilfe, so wie das in anderen Bundesländern bereits gelingt.
Bitte nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr und sorgen Sie dafür, dass Berlin zeigt, was Willkommenskultur wirklich heißt, und dass die Menschen in Deutschland wieder stolz auf ihre Hauptstadt sein können.
Mit freundlichen Grüßen
Claudia Roth
Den Brief im Original finden Sie hier.