Claudia Roth besuchte Anfang Oktober für vier Tage die türkisch-syrische Grenzregion und die türkischen Städte Sanliurfa, Suruç, Gaziantep, Mardin und Diyarbakır, die nicht zuletzt aufgrund der geografischen Nähe zur umkämpften Stadt Kobane auf syrischer Seite angespannte Tage erleben. Bei ihren Gesprächen vor Ort informierte sie sich über die aktuelle Situation in Syrien und Kobane, über die Folgen des Syrienkrieges für den Südosten der Türkei, die Lage der irakischen und syrischen Flüchtlinge sowie über die türkische Syrienpolitik.
Auf ihrer Reise sprach Claudia Roth mit türkisch-kurdischen Akteuren der Zivilgesellschaft, mit Vertretern der Zivilgesellschaft aus den kurdischen Gebieten Syriens, mit humanitären Helfern und Aktivisten aus Syrien, mit Vertretern des Syrian Interim Government in Gaziantep, mit lokalen Politikern wie Bürgermeistern und Gouverneuren, mit Abgeordneten der Türkischen Nationalversammlung, mit Vertretern von Hilfsorganisationen wie dem UNHCR, OCHA, IOM und UNICEF sowie von örtlichen NGOs und Entwicklungsorganisationen, mit türkischen Menschenrechtsaktivisten als auch mit christlichen Vertretern aus der Türkei.
Claudia Roth besuchte unter anderem das mobile Krankenhaus in der Grenzstadt Kilis, das von Malteser International und mit Unterstützung der Bundesregierung betrieben wird. Es leistet einen wichtigen Beitrag bei der Behandlung von Verletzten im syrischen Bürgerkrieg, die meisten der dort behandelten Menschen kommen aus der syrischen Stadt Aleppo. Darüber hinaus besuchte Claudia Roth Flüchtlingsfamilien und provisorische Flüchtlingsunterkünfte in der Stadt Suruç, außerdem das Lager für jesidische Flüchtlinge in Mardin sowie das Flüchtlingscamp Fidanlik vor den Toren der Stadt Diyarbakir, in dem 6.000 jesidische Flüchtlinge untergekommen sind.
Die Eindrücke, die sie auf der Reise und bei den vielen Gesprächen von der Situation vor Ort gewinnen konnte, waren mehr als bedrückend: Das Elend der vielen geflüchteten Menschen ist kaum vorstellbar. Unter ihnen sind sehr viele schwerst traumatisiert und haben die Hölle auf Erden erlebt, nahestehende Menschen verloren. In der Türkei leben inzwischen 1,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und Irak, allein aus Kobane und Umgebung sind es etwa 160.000. Sie sind in Fabrikhallen, in Busbahnhöfen, in Lager- und Allzweckhallen oder in Schulen untergebracht, zum Teil unter Bedingungen, die über die erste Nothilfe nicht hinausreichen. Oft haben sie nicht mehr als das, was sie am Leibe tragen. Sehr viele Flüchtlinge haben aber auch Aufnahme bei kurdischen und türkischen Familien gefunden, die bisweilen mehrere Familien in ihrem Haus unterbringen. Die Versorgungslage ist nur am Tagesbedarf orientiert und es fehlt buchstäblich an allem. Die türkischen Kommunen müssen die Versorgung der Flüchtlinge aus ihren begrenzten Mitteln stemmen und sind längst an der Grenze ihrer Kapazitäten. Ohne Hilfe von außen werden sie die Flüchtlinge nicht ausreichend versorgen können, schon gar nicht im nahenden Winter, wo es in dieser Region sehr kalt werden wird. Deswegen braucht es jetzt dringend feste Unterkünfte, Lebensmittel, mobile Krankenhäuser und Krankenstationen, Möbel, Kleidung, Nahrung, Wasser, sanitäre Ausstattung, mobile Schulklassen oder Zelte für die Bildungsarbeit.
Die Regierungen in Europa sind gefordert, der Türkei und den Kommunen in der Region mit einer groß angelegten humanitären Hilfsaktion beizustehen. Vor allem die EU muss mit deutlicher ziviler und humanitärer Unterstützung endlich ein klares Zeichen setzen, dass wir das Leid vor unserer Haustür nicht ungerührt geschehen lassen. Doch die Versorgung und Unterbringung der über 12 Millionen Syrer auf der Flucht ist längst zu einer Aufgabe für uns alle geworden. Die internationale Gemeinschaft, jede Regierung, aber auch jeder Einzelne und jede Kommune können etwas tun. Mit gezielter Aktivierung von Städtepartnerschaften zwischen deutschen und kurdisch-türkischen Städten und Gemeinden sowie im Nordirak ließe sich schnelle und bedarfsorientierte Hilfe organisieren. So kann nicht nur gegenseitiges Verständnis gefördert, sondern auch konkrete Solidarität organisiert werden. Neben der humanitären Offensive braucht es jetzt auch eine solidarische, eine mitfühlende Offensive, etwa durch Spenden oder Patenschaften. Die Notleidenden in der Türkei, im Irak, in Syrien und in der gesamten Region brauchen ein Zeichen, dass sie nicht allein gelassen werden.