Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Immer wieder ist in diesem Zusammenhang zu hören, man müsse die „Fluchtursachen bekämpfen“. Das leuchtet ein. Doch was steckt hinter dieser verheißungsvollen Forderung?
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat heute einen Antrag „Fluchtursachen statt Flüchtlinge bekämpfen“ in den Bundestag eingebracht, der Antworten auf diese Frage gibt. Ziel müsse eine kohärente internationale Politik sein, die auf strukturelle Reformen in den Bereichen Handel, Landwirtschaft, Fischerei, Außenpolitik und Klimaschutz setze. Claudia Roth sagte dazu: „Wer glaubt, einige entwicklungspolitische Maßnahmen würden ausreichen, um den Menschen eine Flucht zu ersparen, der täuscht sich – und andere.“
Weiter fuhr sie fort: „Vielmehr müssen wir die grundlegenden Strukturen unserer Politik überdenken und endlich auch nach unserer eigenen Verantwortung fragen. Wir exportieren Rüstungsgüter in Krisengebiete, überfischen die Weltmeere und nehmen in Kauf, dass unser Export und Konsum andernorts zu Armut und Zukunftslosigkeit führen. Viel zu oft haben wir – ebenso wie die Regierungen und Konfliktparteien vor Ort – bei der Konfliktprävention und Friedensschaffung versagt. Und die von uns mitverursachte Klimakrise führt weltweit zu immer mehr Dürren, Stürmen und Ernteausfällen.“
Den Antrag finden Sie hier.
Die Rede im Wortlaut:
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn wir im Bundestag über das Thema Flucht und geflüchtete Menschen debattieren, dann befällt einige von uns eine sonderbare Schicksalsergebenheit, gerade so, als würden uns die Menschen, die hier bei uns in Europa und in Deutschland Schutz suchen, von einer höheren Macht geschickt. Aber diese Menschen kommen nicht einfach so. Sie kommen nicht ohne Grund. Sie kommen auch nicht aus böser Absicht oder wegen der Aussicht auf ein bisschen Taschengeld. Sie kommen, weil ihnen das Überleben in ihrem Heimatland unmöglich ist oder weil das Leben dort unerträglich geworden ist.
Dennoch diskutieren einige über Flucht, also über das erzwungene Verlassen der Heimat, so, als ob das mit uns in Europa gar nichts zu tun habe, und tun so, als ob wir als Europäer dafür keinerlei Verantwortung trügen. Stattdessen werden in der Debatte vor allem Maßnahmen ins Spiel gebracht, die nicht die Ursachen der Flucht in den Vordergrund rücken, weil wir vermeintlich da nichts tun könnten, und hagelt es täglich Vorschläge, die rein auf Abschreckung, Abschottung und Grenzschließung setzen. Schauen wir uns nur einmal an, wie lange sich die Debatten um die Themen Obergrenze, Aussetzung des Familiennachzuges oder Transitzonen schon ziehen. Oder denken wir an den Kotau vor einer Regierung in Ankara, die tagtäglich die Menschenrechte mit Füßen tritt, die die Pressefreiheit hinter Gitter sperrt, die de facto einen Bürgerkrieg in kurdischen Städten führt. Oder denken wir an die militärische Abschottung im Mittelmeer, vielleicht bald auch auf libyschem Boden. Oder denken wir an Valletta, wo eine Kooperation mit Unrechtsregimen wie Eritrea diskutiert und sogar auf den Weg gebracht worden ist.
Einmal mehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird deutlich: Wenn aus innenpolitischen Erwägungen außenpolitische Entscheidungen getroffen werden, bei denen Abschottung das Richtmaß ist, dann ist es auch nur logisch, wenn mit dem Etikett „sicherer Herkunftsstaat“ Realität politisch umdefiniert wird, sogar im Hinblick auf Länder wie Afghanistan, der Türkei oder dem Kosovo.
Es steht zu befürchten, dass auch heute beim Europäischen Rat diese Logik nicht durchbrochen wird. Doch ein Europa der Zäune, ein Europa der Mauern ist kein Europa, das ich mir vorstellen mag. Es ist ein Europa, das wir vor 25 Jahren hinter uns gelassen haben und zu dem wir niemals wieder zurückkehren wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Abschottungspolitik ist im Kern nichts anderes als das Gegenteil eines ich zitiere humanitären Imperativs, der uns in Europa doch leiten sollte. Nein, die Flüchtlinge sind doch nicht aus der Welt, nur weil wir sie abfangen lassen. Ihr Leid wird doch nicht erträglicher, nur weil wir sie durch einen Zaun betrachten. Egal, wie viele Patrouillenboote wir ins Mittelmeer verlegen, egal, wie hoch wir die Mauern der Festung Europa noch ziehen – diese Maßnahmen werden uns nicht vor unserer eigenen Verantwortung schützen.
Diese Verantwortung bedeutet, die Fluchtursachen und nicht die Flüchtlinge zu bekämpfen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann darf es auch nicht bei Sonntagsreden bleiben, dann müssen wir an die Wurzeln gehen, anstatt weiter nur an den Symptomen herumzudoktern. Genau da setzen wir mit unserem Antrag zu den Fluchtursachen an. Wir legen einen umfassenden Text vor, der in allen relevanten Politikbereichen aufzeigt, was sich tatsächlich ändern muss, wie sich die europäische Politik ändern muss und wie auch wir selbst uns ändern müssen, wenn wir verhindern wollen, dass immer mehr Menschen aus ihrer bisherigen Heimat fliehen müssen – in einer Welt, in der es keine Inseln der Glückseligkeit mehr gibt, weil die Krisen global sind und weil die Auswirkungen dieser Krisen inzwischen auch bei uns ankommen.
Wir definieren mit diesem Antrag unsere eigene Verantwortung für das globale Flüchtlingsdrama und liefern damit den aufrichtigen Versuch einer wirksamen Bekämpfung von Fluchtursachen: im Bereich Krieg und Unterdrückung, bei Diskriminierung, Repressionen und Ausgrenzung, gegen Armut und Zukunftslosigkeit, im Bereich Umwelt und Klima, im Bereich der humanitären Hilfe und, indem wir einen Weg hin zur legalen Einwanderung aufzeigen. Das heißt dann sehr konkret: Schluss mit der derzeitigen Rüstungsexportpolitik, die weltweit gerade auch die Länder mit Waffen versorgt, die mit die Hauptverursacher von Flucht sind, wie zum Beispiel Saudi-Arabien, diesen Exporteur der Wahhabismus-Ideologie, aus der sich der islamistische Fundamentalismus speist, oder wie Katar, das Daesh aufpäppelt, dem wir aber immer noch den roten Teppich ausrollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Fluchtursachen bekämpfen heißt für uns aber auch, keinen unfairen Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA zuzustimmen, die die Menschen in Afrika ausgrenzen, die sie noch weiter abhängen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten hemmen, es heißt, keine europäischen Billighähnchenschlegel auf die Märkte von Ghana, keine Fischtrawler vor den Künsten Senegals, es heißt, gegen das Land Grabbing internationaler Konzerne endlich wirkungsvoll vorzugehen, weil es im wahrsten Sinne des Wortes Lebensraum zerstört und den Menschen ihre Heimat raubt, es heißt, die Finanzierungsversprechen im Bereich globale Gerechtigkeit endlich einzuhalten, es heißt, die systematische Diskriminierung von Minderheiten wie den Roma zu beenden, und es heißt vor allem auch, Ernst zu machen mit echtem Klimaschutz statt eine Rolle rückwärts in die Kohlegrube.
Die Beschlüsse von Paris machen Mut. Doch wenn es uns nicht gelingt, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Anstieg der Erderwärmung unter 1,5 Grad zu halten, dann werden global in einem Ausmaß Lebensräume zerstört, und die Folgen werden mit den heutigen Ursachen für Fluchtbewegungen überhaupt nicht vergleichbar sein. Das Thema Klimaflucht macht wie unter einem Brennglas sichtbar, was unser Lebenswandel in der industrialisierten Welt global anrichten kann oder bereits anrichtet. Diese Gefahr bedroht uns nicht erst in fernen Zeiten. Wir können es doch schon heute sehen, wenn wir nach Bangladesch blicken oder auf die pazifischen Inseln schauen.
Eines noch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es darf doch nicht sein, dass offenbar Milliarden dafür ausgegeben werden, um die Regierungen Afrikas für Rückführungen zu ködern und Schiffe im Mittelmeer zu versenken, während dem Welternährungsprogramm und dem UNHCR die Gelder fehlen. Deshalb müssen die Aufnahme- und Transitländer bei der Unterbringung und bei der Versorgung der Geflüchteten viel stärker unterstützt werden.
Neben der Beantwortung der humanitären Fragen und neben der Schaffung sicherer Fluchtwege über humanitäre Visa und großzügigere Resettlement-Kontingente ist schließlich auch längst überfällig, legale Migration über ein Einwanderungsgesetz zu ermöglichen. Doch dafür muss man dem Bundestag ein entsprechendes Gesetz vorlegen, liebe Kollegen von CDU und SPD, anstatt sie nur in Parteitagsbeschlüsse zu schreiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Antrag wollen wir die Fluchtursachen nicht nur bereden, sondern wirklich beheben, und wir wollen sofort damit anfangen; denn die Menschen in Not können nicht länger warten.
Ich danke Ihnen.