Vor 20 Jahren ist Rio gestorben. Mein Rio. Unser aller Rio. König von Deutschland – und Königin. Ich erinnere mich an ihn natürlich mit Wehmut, mit Traurigkeit darüber, dass er schon so lange nicht mehr da ist. Er würde uns noch immer gut tun, uns Menschen in seinem Königreich. Gerade jetzt. Was würde er wohl denken über all die Verrücktheiten dieser Welt? Was über all die Gewalt, die Not, die Furcht? Über den Hass der Menschenverachter, über die Macht neuer Medien, darüber, dass wir es in vielen Bereichen geschafft haben, den Staat auf unsere Seite zu ziehen? Auf die Seite der Freiheit, der Bürgerrechte, der Vielfalt. Was würde er sagen zu unserem immer noch täglichen Kampf, all diese Freiheiten zu erhalten und weiter auszubauen, wie überrascht wäre er über unsere Feinde?
Ich habe Rio Mitte der 1970er Jahre kennengelernt. Ich arbeitete zu dieser Zeit als Dramaturgin an den Städtischen Bühnen in Dortmund und später dann am „Hoffmans Comic Teater“ in Unna. Zu beiden Spielstätten hatten Rio und seine Band „Ton Steine Scherben“ persönliche Verbindungen, arbeiteten immer wieder selbst an Produktionen mit. Im Winter 1976, nach der letzten Aufführung der „Struwwelpeter Revue“ in Dortmund, für die Rio die Musik komponiert und bei der er als Schauspieler mitgespielt hatte, fuhr ich ihn nach Hause nach Fresenhagen, Kreis Nordfriesland. Es war das erste Mal, dass ich dort war. Rio lebte mit der Band seit einem Jahr in einem alten Bauernhaus, knapp unterhalb der dänischen Grenze, mitten auf der Geest, in der Mitte von nirgendwo. Ein Haufen langhaariger Berliner in dieser Ödnis des Nordens.
Mir gefiel es sofort, die Abgeschiedenheit, das Familiäre, dieses Leben mit der Kunst. Ich fuhr also regelmäßig hin und organisierte, wo ich schon mal da war, kleinere Auftritte für die Band oder half ein wenig bei der Pressearbeit. Ich blieb länger und länger, und schließlich zog ich Anfang der 1980er Jahre ganz nach Fresenhagen. Aus ein paar Besuchstagen wurden mehrere Jahre in der spannendsten WG dieser Zeit.
Für mich war die entscheidende Erfahrung die enge Verbindung von Arbeiten und Leben. Arbeit in Fresenhagen war nicht nur im kapitalismuskritischen, sondern auch in einem ganz persönlichen Sinn nicht-entfremdete Arbeit. Die Menschen, die hier gemeinsam etwas erschufen, waren auch die vertrautesten Freunde. Und Rio war in der Scherben-Familie der, der die besten Suppen kochte. Wir legten stets Wert auf ein gemeinsames Essen am Tag und auf einen schön gedeckten Tisch. Durch das Essen wurden wir von einer Kommune zu einer Familie. Das Geschirr war zusammengeschustert und nicht besonders ansehnlich, aber wenn es Blumen im Garten gab, gab es auch welche auf dem Tisch und, wenn sie sauber war, auch eine Tischdecke.
Der Lebensrhythmus mit Rio und den Scherben war jenseits der Malzeiten schnell und hart – und gerade in dieser Intensität unendlich reich. Ich hab immer gedacht und gefühlt, dass es nichts Besseres gibt, als mit Rio, als mit dieser Band zusammen zu arbeiten. Und wenn Rio nochmals gerufen hätte, ich hätte alles stehen und liegen lassen, um wieder dabei zu sein.
Ich bekam den Titel „Managerin“, tatsächlich sollte ich ums Überleben der Scherben kämpfen und zusehen, dass Geld reinkam. Rio und die anderen nannten mich „Schneewittchen“, weil sie die „sieben Scherben“ waren – „Sterntaler“ wäre jedoch angebrachter gewesen.
Von Rio habe ich in dieser Zeit unendlich viel gelernt: Die Kraft der Bühne und die Magie der Emotionen. Rio war echt authentisch, war der laute Schrei „Ich will ich sein!“ Er konnte seine Gefühle, sein Leiden, seine Wut, seine Sehnsucht, seine Liebe übertragen, von der Bühne auf das Publikum, von der Vinyl-Rille auf die Zuhörer, er konnte Emotionen im wahrsten Sinne rüberbringen und anderen schenken. Damit brachte er die Menschen dazu, sich einzumischen in die eigenen inneren Angelegenheiten.
Von Rio konnte man das akribische Arbeiten, das Schreiben von Texten, das Durchleben eines künstlerischen Prozesses lernen. Rio hat laufend Assoziationen, Gedanken, Inspirationen gesammelt und sie ständig notiert. Er hat unendlich lange und präzise an seinen Texten und Melodien gefeilt. Er hat mir vermittelt, dass ein guter Text, ein guter Song, ein guter Auftritt nicht mal eben so vom Himmel fallen, sondern die volle Hingabe benötigen – und echte, harte Arbeit sind. Rio hat mir auch gezeigt, dass es wichtig ist, für jede Performance das richtige Kostüm und die richtige Maske zu auszuwählen. Er hatte für jede Tour die eine Jacke, das eine Tuch, die eine Hose. Variationen ausgeschlossen. Denn nur so, aus Tour, Songs, Kostüm, Maske, Performance ergab sich erst jeweils das notwendige große Ganze. Eben das, was ausgedrückt werden musste in diesem Moment.
Diese Erfahrung, einen Künstler in einer Phase seines Schaffens begleitet zu haben, macht mich unendlich reich. Seine harte Arbeit zu sehen, seine Inspirationen, sein Kämpfen mit der inneren und äußeren Welt. Um es für ihn einfacher zu machen, hatte Rio immer zwei Bücher an seiner Seite: die Bibel, aus der er viel zitiert hat, und immer Karl May – auf jeder Platte findet sich ein Titel ihm zu Ehren.
Dass Rio auch Liebeslieder schrieb und gerade er das Private politische verstand, wurde aus der linken Anarchoszene mitunter heftig kritisiert. Wie kann jemand sein Schwulsein als wichtig darstellen und von Eifersucht singen, wenn wir doch die Revolution vor uns haben und Häuser besetzen müssen? Klang das nicht nach Rückzug und Müdigkeit? Doch für Rio war es weder das eine noch das andere, sondern es kam einer Revolution gleich. Als 1986 sein „König von Deutschland“ die Charts stürmte, verkündete er, dass er der erste schwule König von Deutschland werden wolle – nach Friedrich dem Großen und Ludwig II. Er erklärte, er wolle dafür sorgen, dass sich niemand für seine Gefühle und für sein Begehren schämen oder gar verstecken müsse. Das provozierte Protest und Empörung. Dass ein Pop-Star sich zu seiner Homosexualität bekannte, das war damals ein Skandal.
Rio lebte schwul, sang schwul, dachte schwul, war öffentlich und offensichtlich schwul – und stellte sich damit ganz konkret in den Wind und außerhalb jeder Erwartung, sowohl in der Gesellschaft als auch im eigenen, doch so rebellischen Milieu. Durch ihn erst wurde mir klar, wie politisch auch Privates ist, und dass diese Einstellung das beste, vielleicht einzige Rezept gegen Diskriminierung.
Auf einer Wahlkampfveranstaltung der Grünen am 6. März 1985 spielten die Scherben ihr letztes Konzert. Danach verstreuten sie sich in alle Welt. Ich heuerte in Bonn als Pressesprecherin der ersten Bundestagsfraktion der Grünen an. Rio landete seinen Hit mit „König von Deutschland“, 10 Jahre später starb er in Fresenhagen, mit nur 46 Jahren. Noch heute lächele ich vor Freude, wenn ich an ihn denke – Somewhere over the Rainbow.
Der Gastbeitrag ist am 12. August 2016 auf Spiegel Online unter diesem Link erschienen.