Zum Prozessbeginn gegen Osman Kavala und weitere Angeklagte in Istanbul erklärt Claudia Roth:
Die Freude in der Türkei über den demokratischen Hoffnungsschimmer nach der Wahl in Istanbul hält an. Das toxische System Erdogan aber wirkt weiter. Gestern hat der unfaire und politisch brandgefährliche Prozess gegen Osman Kavala und fünfzehn weitere Angeklagte begonnen. Es drohen Strafen bis zu lebenslänglicher Haft. Als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages war ich vor Ort, um Solidarität mit den Beschuldigten auszudrücken. Die Vorwürfe nämlich entbehren jeder rechtsstaatlichen Grundlage. Zugleich wollte ich ein Zeichen setzen und verdeutlichen, dass wir in Deutschland solidarisch und fest an der Seite der türkischen Demokratinnen und Demokraten stehen, die seit Jahren aufbegehren – trotz massiver Repression und Verfolgung.
Dabei haben die konstruierten Vorwürfe in der Anklageschrift und der geradezu kafkaeske Prozess auch mit uns zu tun: Osman Kavala ist einer der wichtigsten Brückenbauer der türkischen Zivilgesellschaft. Er hat eng und stets transparent mit dem Goethe-Institut, deutschen politischen Stiftungen und dem Auswärtigen Amt zusammengearbeitet. Nun wird ihm vorgeworfen, er habe die Gezi-Proteste finanziert und gemeinsam mit den Mitangeklagten einen Staatsstreich geplant. Glaubwürdige Beweise: Fehlanzeige. Offensichtlich geht es allein darum, bürgerrechtliches Engagement zu kriminalisieren und zu unterdrücken.
Sollte sich die türkische Justiz noch einen Rest von Unabhängigkeit bewahrt haben, dann kann es nur zum bedingungslosen Freispruch der Angeklagten kommen. Der Prozessauftakt stimmt mich vorsichtig optimistisch. Sehr viele Menschen haben dem Prozessbeginn beigewohnt und wurden auch bei lauten Beifallsbekundungen für die Beschuldigten nicht des Saales verwiesen. Osman Kavala und andere konnten sich ausführlich zu Wort melden. Dennoch: Das gesamte Verfahren ist absurd, alles andere bleibt abzuwarten.