Zur aktuellen Lage in der Türkei und der angekündigten Entlastung der dortigen Gefängnisse erklärt Claudia Roth:
Auch mitten in der globalen Corona-Krise führt der türkische Präsident Erdoğan seinen autokratischen Kurs mit äußerster Rücksichtslosigkeit fort. Mit Festnahmen von Journalistinnen und Journalisten oder der Absetzung von Bürgermeistern, die mehr Transparenz im Umgang mit der Pandemie fordern, setzt die türkische Regierung mit dem Präsidenten an ihrer Spitze auf eine gefährliche Beschwichtigungs- und Geheimhaltungspolitik – und riskiert damit das Leben vieler Menschen im eigenen Land.
Auch die angekündigte Entlastung der Gefängnisse durch Entlassung von zahlreichen Gefangenen offenbart die ideologische Engstirnigkeit der Regierung Erdoğan in Corona-Zeiten: Sie hält an alten Feindbildern fest und schließt bewusst die politisch Gefangenen, darunter viele Journalisten, Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten, von der Freilassung aus. Dazu zählen auch der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş und Gültan Kışanak, der Schriftsteller Ahmet Altan oder Kulturmäzen Osman Kavala; die Gefährdung ihres Lebens nimmt Präsident Erdoğan damit bewusst in Kauf.
Der Kampf gegen die Ausbreitung von Covid-19 darf nicht zu einer Aushebelung von Menschen- und Bürgerrechten in der Türkei führen. Die Europäische Union und die deutsche Bundesregierung dürfen diese Prinzipien nicht auf Grund eigener migrationspolitischer Erwägungen über den Haufen werfen; sie müssen sich dringend für die Wiederherstellung rechtsstaatlicher, menschenrechtlicher und demokratischer Grundsätze einsetzen und dabei das Schicksal von Menschen und Menschenrechten in der Türkei nicht aus dem Blick verlieren.