Rede von Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, zum Abschluss der Konferenz „Gegen den Antiziganismus: Die Rolle politischer Führungskräfte bei der Bekämpfung von Diskriminierung, Rassismus, Hassverbrechen und Gewalt gegen Gemeinschaften der Roma und Sinti“ von OSZE, Europarat und Zentralrat deutscher Sinti und Roma
Europasaal, Auswärtiges Amt
Berlin, 6. September 2016
(Es gilt das gesprochene Wort!)
Sehr verehrte Damen und Herren,
geschätzte Vertreterinnen und Vertreter von OSZE, Europarat, Zentralrat deutscher Sinti und Roma,
werte Kolleginnen und Kollegen aus dem Auswärtigen Amt, dem Europäischen und den nationalen Parlamenten,
liebe Freundinnen und Freunde.Es freut mich sehr, heute hier zu Ihnen sprechen zu dürfen. Das ist keine Floskel zu Beginn meiner Rede. Das Thema der Konferenz ist mir wirklich ein Herzensanliegen.
Und es ist gut, zu sehen, dass der Antiziganismus in Europa, der doch viel zu häufig verschwiegen wird, auf dieser Ebene diskutiert wird.
Der Einsatz für die Gleichberechtigung von Sinti und Roma begleitet mich, seit ich politisch denken kann.
Das mag entschlossen und kämpferisch klingen; es hat aber auch eine bitter-negative Konnotation: Es zeigt nämlich, wie langsam wir voranschreiten, und wie wenige Fortschritte wir verzeichnen können.
An keinem Tag hat mich diese Erkenntnis schmerzvoller getroffen als zum 70. Jahrestag der Auflösung des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau. Am 2. August 2014 durfte ich vor Ort, zu Überlebenden, zu ihren Angehörigen, zu ihren Nachfahren sprechen. An jenem Ort, an dem einst alle menschlichen Werte ausgelöscht wurden, der bis heute das Ende jeder Zivilisation markiert. Dieser Ort, der jedes Wort, der jede Geste schier zu erdrücken vermag.
Es war eine der schwierigsten Reden meiner politischen Laufbahn, und die Eindrücke wirken nach. Sie wirken bis heute, da ich gebeten wurde, erneut zum „Antiziganismus“ zu reden, und dabei eine ganz konkrete Frage zu beantworten: Was können Parlamentarierinnen und Parlamentarier wie ich konkret gegen Antiziganismus, was können wir für die Rechte von Sinti und Roma in Europa tun?
Angesichts der wenigen Fortschritte, die im Kampf gegen Antiziganismus zu verzeichnen sind, lautet eine erste Antwort auf diese Frage: Zunächst einmal sollten wir einen langen Atem beweisen. Wer als Politiker schnelle Erfolge sucht, sollte einen anderen Schwerpunkt wählen. Wessen primäres Ziel es ist, Wahlkämpfe zu gewinnen, und mit einfachen Antworten zu punkten, der ist beim Thema „Antiziganismus“ falsch aufgehoben.
Wer hingegen im Rahmen seiner parlamentarischen Arbeit einen tatsächlichen Wandel herbeiführen möchte, dem bleibt nichts anderes übrig, als Antiziganismus, die Vorurteile, und die Diskriminierung von Roma stets auf die Agenda zu setzen, und tagtäglich dagegen vorzugehen.
Denn tatsächlich gibt es kaum einen politischen Arbeitsbereich, in dem Antiziganismus, in dem die Diskriminierung von Roma keine Rolle spielen.
Das ist wenig verwunderlich. Immerhin reden wir von einer systematischen und jahrhundertealten Diskriminierung in allen Ländern Europas, gegenüber der größten Minderheit unseres Kontinents. Wir reden von einer tiefverwurzelten Ablehnung und Ausgrenzung, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, in den Roma-Ghettos, in Serbien und Bulgarien, im Kosovo und in Ungarn.
Ich habe dort bittere Not mit ansehen müssen, himmelschreiende Ungerechtigkeit, Chancenlosigkeit, und leider viel zu oft auch eine unendliche Hoffnungslosigkeit in den Augen der Mütter und Väter. Wenn ihnen der Zugang zur Gesundheitsversorgung versagt wird. Wenn ihre Kinder in Sonderschulen gesteckt werden, nur weil sie Roma sind. Wenn ihnen der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen bleibt. Und wenn ihnen die elementarsten Teilhaberechte entzogen werden.
All das wiegt schwer; doch lassen Sie mich als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages hinzufügen: Antiziganismus und die Ausgrenzung von Roma, sie wiegen besonders schwer in diesem Land. Hunderttausende Roma fielen dem nationalsozialistischen Regime zum Opfer, das sich zum Ziel gemacht hatte, ihre gesamte Kultur zu vernichten, und in der Folge mit aller Brutalität gegen Roma in ganz Europa vorging.
Umso erschreckender ist es da, wenn Kolleginnen und Kollegen auch hier in Deutschland den Antiziganismus nicht nur ignorieren oder herunterspielen, sondern systematisch die vorhandenen Ressentiments verfestigen, und sie partei- und wahlpolitisch ausschlachten – beispielsweise wenn sie anti-europäische Ressentiments und antiziganistische Positionen vermengen und gegenseitig aufladen. Indem sie Roma gleichsetzen mit Armut, mangelnder Bildung und Kriminalität, wird die zahlenmäßig größte Minderheit Europas immer und immer wieder zu DEM ANDEREN gemacht, zu DER GRUPPE, mit der man nichts zu tun haben will, mit der man selbst NICHTS ZU TUN HAT.
Doch sie gehören zu uns, die circa 70.000 Sinti und Roma in Deutschland, sie gehören zu uns, die 12 Millionen Sinti und Roma in Europa, und wir gehören zu ihnen. Deshalb: Wir alle, nicht zuletzt wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier, haben die gemeinsame Pflicht, die Stereotypisierung zu bekämpfen, und die Sinti und Roma als das anzuerkennen, was sie sind: Menschen, die arm und reich, gebildet und ungebildet, deutsch, rumänisch, französisch, ungarisch oder australisch sein können.
Das bewusste Spielen mit Stereotypen hingegen grenzt aus, und bietet keine Lösung, für kein Problem. Das gilt umso mehr, als wir doch seit geraumer Zeit beobachten, wie in Deutschland, wie in ganz Europa die Ressentiments gegenüber Sinti und Roma, wie der alltägliche Antiziganismus immer weiter zunimmt.
Meine zweite Antwort auf die Frage, was wir als Abgeordnete gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma unternehmen können, lautet deshalb: Wir – und das verstehe ich auch als explizite Mahnung gegenüber den sogenannten Mehrheitsparteien – sollten es ein für alle Mal unterlassen, mit simplen Antworten auf komplizierte Fragen billigen Wahlkampf zu betreiben, und stattdessen die Herausforderungen lieber heute als morgen engagiert angehen.
Das heißt dann ganz konkret, die EU-Roma-Strategie von 2011 und deren nationalen Aktionspläne ernst zu nehmen und vollumfänglich umzusetzen. Das gilt selbstverständlich für die Politik im eigenen Land. Genauso aber muss es Dauerthema sein, wenn wir Gespräche führen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Partnerstaaten in Europa, wenn wir uns austauschen mit Kolleginnen und Kollegen aus Ländern mit EU-Kandidatenstatus, oder wenn wir diese Länder besuchen.
Entsprechend hätte ich mir sehr gewünscht – und das wird hier im Auswärtigen Amt vermutlich niemanden überraschen – wenn auch Deutschland die EU-Roma-Strategie konsequenter unterstützt hätte: wenn die Bundesregierung einen nationalen Aktionsplan erstellt hätte; wenn die nationale Kontaktstelle besser ausfinanziert wäre; wenn die Einrichtung einer Expertenkommission zum Antiziganismus voranschreiten würde; oder wenn bei der jüngsten Einstufung weiterer „sicherer Herkunftsländer“ mit dem Teufelskreis aus Diskriminierung, Ausgrenzung und Armut der Roma sensibler umgegangen worden wäre.
Zugleich ist der Kampf gegen den Antiziganismus aber natürlich eine komplexe Aufgabe. Umso bedeutsamer ist die Rolle, die gerade auch die OSZE in diesem Bereich spielen kann. Immerhin war es der OSZE-Aktionsplan für Roma und Sinti von 2003, der der „Dekade für Roma-Inklusion“ von 2005-2015 und letztlich auch der EU-Roma-Strategie zugrunde lag.
Die OSZE kann vermitteln. Sie kann den Dialog fördern. Sie kann für Integration und Inklusion werben. Sie sollte aber auch immer wieder Antiziganismus unmissverständlich ächten und Einzelfälle aufgreifen, wie wiederholt bei Zwangsräumungen beispielsweise in Ungarn geschehen. Sie sollte das Thema auch im Rahmen ihrer Wahlbeobachtungen dokumentieren und entsprechend reagieren. Und natürlich sollte die OSZE die Umsetzung der EU-Roma-Strategie, aber auch anderer internationaler Übereinkommen zum Schutz und zur Gleichberechtigung von Sinti und Roma fördern.
In dem Zusammenhang darf die Arbeit des Europarats, gerade auch die unzähligen Initiativen meiner Kolleginnen und Kollegen in der Parlamentarischen Versammlung, nicht unerwähnt bleiben. Für die klaren Worte, für die unermesslich wichtigen Berichte, für den unermüdlichen Einsatz für die Menschenrechte von Minderheiten, und für den Respekt gegenüber den Betroffenen können wir uns nicht häufig genug bedanken.
Dasselbe gilt übrigens für die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament, die zuletzt im vergangenen Jahr deutliche Worte zur besorgniserregenden Situation von Sinti und Roma in Europa fanden, und die nicht müde werden, die lückenlose Umsetzung der europäischen Roma-Strategie einzufordern.
Bei alledem dürfte wohl eine der größten Aufgaben darin bestehen, die Stereotypen in den Köpfen der Menschen zu verändern. Auch hier müssen wir Abgeordnete aktiv werden, durch öffentliche Auftritte und parlamentarische Initiativen.
Wie notwendig das ist, hat nicht zuletzt die „Leipziger Mitte-Studie“ gezeigt, die 2016 von der Heinrich-Böll-Stiftung, der Otto-Brenner-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegeben wurde. Darin wird deutlich: Die Abwertung von Sinti und Roma hat in jüngster Zeit sogar noch zugenommen in Deutschland. 57,8% der Befragten gaben an, dass sie ein Problem allein damit hätten, wenn Roma in ihrer Nähe wohnten. 58,5% aller Befragten glauben, Sinti und Roma neigten zu Kriminalität. Und rund die Hälfte der Befragten stimmte der Aussage zu, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten vollständig verbannt werden: 77,5% bei Anhängern der rechtspopulistischen AfD; immer noch fast 50% bei Liberalen, Sozialdemokraten und Konservativen; und über 30% selbst bei den Grünen und den Linken.
Diese Zahlen sind erschreckend, und sie sind Ausdruck von nicht weniger als einem tief verwurzelten Antiziganismus, nicht nur in OSZE-Partnerländern wie Serbien oder Italien, sondern auch in Deutschland. Gerade deshalb müssen wir, und damit meine ich erneut auch uns Abgeordnete, immer wieder ein Bewusstsein dafür schaffen, wie gravierend dieses Problem in Europa und auch in unserem eigenen Land tatsächlich ist.
Wir müssen, im Bundestag, im Europäischen Parlament, in der Regierung, in der Öffentlichkeit und natürlich auch im Rahmen der OSZE oder des Europarats: Veränderungen auf allen Ebenen einfordern, unermüdlich gegen Vorurteile kämpfen, und den Antiziganismus in Europa als grundlegendes Problem benennen, statt uns (so wichtig das auch ist) ausschließlich an den schwerwiegenden Symptomen in Bereichen wie Bildung oder Gesundheitswesen abzuarbeiten.
Wir müssen die im Rahmen der EU-Roma-Strategie zur Verfügung gestellten Gelder auch vollumfänglich abrufen, wohlgemerkt unter maximaler Einbindung der betroffenen Sinti und Roma selbst. Und natürlich sind wir in der Pflicht, rechte Gewalt und Gewalt im Allgemeinen nicht stillschweigend hinzunehmen, sondern mit aller Entschlossenheit überzeugter Demokratinnen und Demokraten dagegen vorzugehen.
Zugleich bin ich absolut dafür, zusätzlich zur freiwilligen EU-Roma-Strategie und anderer unverbindlicher Rahmenabkommen, die wenigen bindenden Instrumente konsequent zu nutzen, die uns im Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung zur Verfügung stehen. Ich finde es deshalb gut, wenn die EU-Kommission in jüngster Vergangenheit vermehrt auf Vertragsverletzungsverfahren setzt, insbesondere im Rahmen der europäischen Racial Equality Directive. Diesen Weg müssen wir weiter gehen, und gerade mit Blick auf das Europäische Parlament können da erneut wir Abgeordnete eine wichtige Rolle spielen.
Noch erfreulicher wäre es da natürlich, wenn wir uns sowohl in den Parlamenten unserer Länder als auch im Europäischen Parlament nicht nur FÜR die Roma und Sinti einsetzen würden, sondern vermehrt auch MIT ihnen Politik machen könnten; wenn mehr als eine oder zwei Roma im Europäischen Parlament säßen, oder es endlich jemand in den Bundestag schaffen würde.
In dem Zusammenhang bewegt es mich sehr, dass sich viele Sinti und Roma in Deutschland und Europa immer noch nicht trauen, von sich als Sinti oder Roma zu sprechen. Nicht, weil sie zurecht der Meinung sind, dass nicht primär oder ausschließlich die ethnische Zugehörigkeit ausmacht, wer wir sind oder nicht sind; sondern vielmehr aus Angst vor Ausgrenzung, Herabwürdigung und erheblichen Nachteilen.
Auch daran müssen wir Politikerinnen und Politiker arbeiten, nicht zuletzt in unseren eigenen Parteien und Parlamenten.
Aber natürlich ist niemandem geholfen, wenn wir in Politik und Öffentlichkeit nur schwarz malen. Selbstverständlich gibt es auch Fortschritte, die wir stets betonen sollten: in einzelnen Ländern des Balkans, in einigen Bundesländern, die mit progressiver Politik voranschreiten, in einzelnen Städten, die ihre ganz eigenen Aktionspläne ausgearbeitet haben.
Vor allem aber sollten wir in dem Zusammenhang eines nie vergessen: Bei allem Schrecken, der den Sinti und Roma in Europa widerfahren ist, bei allem Leid, das der Terror des NS-Systems in die Seelen der europäischen Sinti und Roma eingebrannt hat … sie alle haben ihr grausames Ziel verfehlt. Es ist ihnen nicht gelungen, eine ganze Kultur auszulöschen, und den Reichtum der europäischen Gemeinschaft zu zerstören, den auch die Sinti und Roma in Europa geprägt haben und weiter prägen.
Sie haben tiefe Wunden und Traumata verursacht; sie haben Menschen vertrieben und geschwächt; aber sie konnten die Vielfalt unseres Kontinents, die Vielfalt auch der Kultur der Sinti und Roma nicht zerstören. Nicht die Sprache, nicht die Musik, nicht die Literatur, vor allem aber auch nicht das Andenken an die ermordeten Frauen, Männer und Kinder – und die Verantwortung, die uns diese grausame Geschichte auferlegt.
Sie sind und sie bleiben bei uns, die Sinti und Roma des mittlerweile geeinten Europas. Sie gehören zur europäischen Kultur, und sie sind fester Bestandteil unserer europäischen Gesellschaft, in der sie seit vielen Jahrhunderten leben. Dieses kompromisslose Dazugehören: Es ist das vermutlich schlagkräftigste Argument gegen die anhaltende Diskriminierung und Ausgrenzung, und auch wir Abgeordnete sollten es uns immer wieder zu eigen machen.
Meine verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde.
Artikel EINS des deutschen Grundgesetzes kennt keinen Konjunktiv, und dem „Menschen“ sind darin auch keine Einschränkungen gleich welcher Art voran gestellt. Er lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gilt für Sie, für mich, und selbstverständlich auch für all jene Sinti und Roma, die dieses Land ihren Geburtsort oder ihre neue Heimat nennen.
Und wenn in der Präambel der europäischen Verträge steht, unser vereintes Europa schöpfe „aus dem kulturellen … und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen … als universelle Werte“ entwickelt haben, dann sind mit diesem Erbe auch die unzähligen Prägungen gemeint, die die größte Minderheit unseres Kontinents im Laufe der Jahrhunderte hinterlassen hat, und ohne die unser Europa nicht das wäre, was es heute ist.
Der Schutz der Menschenwürde verbietet jede Ausgrenzung, er verbietet jede Herabsetzung aufgrund von irgendwelchen Zuschreibungen, und das europäische Erbe gehört uns allen, nicht nur einigen wenigen. All das verpflichtet uns Parlamentarierinnen und Parlamentarier, aber natürlich auch Organisationen wie die OSZE und die darin vertretenen Regierungen, jenen in Wort und Tat zur Seite zu stehen, deren Rechte auch weiterhin mit Füßen getreten werden.
Wenn die Frage also heute lautete, was wir Abgeordnete in Deutschland, was meine Kolleginnen und Kollegen in Europa auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene tun können, um dem grassierenden Antiziganismus etwas entgegenzusetzen, dann ist es genau das: Das Versprechen der Menschenwürde mit Leben zu erfüllen, behutsam mit dem europäischen Erbe umzugehen, und in der Folge solange für die Rechte der Sinti und Roma einzustehen – bis das Wort „Minderheit“ in diesem Zusammenhang seine Daseinsberechtigung endgültig verliert, weil es bei aller kulturellen Vielfalt und Eigenständigkeit keinen Grund mehr gibt, Mehrheitsgesellschaft und Roma getrennt voneinander zu betrachten.
Vielen Dank.