Der Bundestag hat sich heute erneut mit dem EU-Türkei-Deal befasst. In ihrer Rede kritisierte Claudia Roth die Haltung der EU und der Bundesregierung, die Frage nach der Aufhebung der Visumpflicht für türkische Staatsangehörige von der Flüchtlingspolitik abhängig zu machen.
Die Visumfreiheit für türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sei längst überfällig und zwar unabhängig vom nach wie vor gefährlich falschen „Flüchtlingsdeal“, so Roth. Sie würde vor allem denjenigen nutzen, die ihr Land nicht dem Autoritarismus von Präsident Erdogan überlassen wollten, sondern die für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die für eine europäische Türkei kämpften und damit Brückenbauerinnen und Brückenbauer zwischen Deutschland und der Türkei seien, fuhr sie fort.
Ungeachtet dessen dürfe es jedoch „keinen Rabatt bei den Menschenrechten“ geben. Genau einen solchen hätte die Bundesregierung Erdogan jedoch gewährt, als es darum ging, aus „einem innenpolitischen Abschottungsinteresse heraus die Türkei zum sicheren Drittstaat umzudefinieren.“ Roth warf der Bundesregierung vor, die Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch über Abschiebungen nach Syrien und Schüsse auf Flüchtlinge nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Mit Flüchtlingsschutz und Schutzverantwortung habe dies „überhaupt nichts mehr zu tun“, so Roth in ihrer Rede.
Die Rede im Wortlaut:
Liebe Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen!Über den EU-Türkei-Vertrag, besser bekannt als Deal, wird im Moment eigentlich nur unter einem Aspekt diskutiert: der möglichen Visafreiheit für türkische Bürgerinnen und Bürger in der EU. Ich glaube aber, dass man viel grundsätzlicher fragen muss, ob dieser Deal wirklich vernünftig, ob er wirklich verantwortlich und ob er wirklich glaubwürdig ist.
Zuerst zur Visafreiheit. Sie ist längst überfällig. Seit der Einführung der Visapflicht 1980 kämpfen viele für das Fallen dieser Barriere – und zwar immer wieder mit Erfolg – vor europäischen Gerichten. Dafür gibt es sehr gute Gründe.
Erstens. Ganz selbstverständlich reisen wir Deutsche seit Jahrzehnten in die Türkei, genießen dort unseren Urlaub, machen Geschäfte und treffen Freunde und Angehörige. Den Menschen aus der Türkei verwehren wir im Gegenzug aber dieses Recht seit 36 Jahren. Das ist kein fairer und partnerschaftlicher Umgang auf Augenhöhe.
Zweitens. Unter der Visapflicht leiden zuallererst die Menschen, die selbst oder deren Vorfahren längst vom Gastarbeiter zum Bürger unseres Landes geworden sind, Menschen, die auch der Grund dafür sind, dass Deutschland und die Türkei ein ganz besonderes Verhältnis verbindet. Ihren Verwandten weiterhin die Visafreiheit zu verwehren, bedeutet nichts anderes, als sie in Geiselhaft für eine entfesselte Politik Erdogans zu nehmen.
Drittens. Mit der Reisefreiheit würden wir zudem diejenigen in der Türkei unterstützen, die ihr Land nicht dem Autoritarismus eines Erdogan überlassen wollen, sondern für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie für eine europäische Türkei kämpfen und damit Brückenbauer in unserem Verhältnis zur Türkei sind.
Wie Sie sehen, haben all diese Argumente gar nichts mit der Flüchtlingsfrage zu tun. Die Visaliberalisierung als eine Belohnung für Erdogan dafür feilzubieten, dass er uns die Flüchtlinge fernhält, ist eine unzulässige Vermischung.
Aber auch die Verweigerung der Visafreiheit mit Verweis auf das türkische Antiterrorgesetz, das in Wirklichkeit ein Antifreiheitsgesetz ist, ist höchst unglaubwürdig. Denn steckt hinter der Ablehnung der Visafreiheit nicht vielleicht ein Ressentiment, das den gleichberechtigten Umgang mit den Menschen in und aus der Türkei verweigert, weil es in ihnen immer nur die Fremden, die Nichteuropäer und die Muslime sieht?
Natürlich darf es keinen Rabatt gegenüber Erdogan bei den Menschenrechten geben. Das braucht man uns wirklich nicht zu sagen. Aber wo ist denn die Kritik, wenn es um den Krieg gegen die Zivilbevölkerung in den Kurdengebieten geht, wenn es um die Abschaffung der Presse- und Meinungsfreiheit geht, wenn es um die Missachtung der Minderheitenrechte geht, zum Beispiel der Rechte der Christen in der Türkei? Wo hatten Sie denn Ihre Menschenrechtsrhetorik geparkt, als es um die Zustimmung zu diesem EU-Türkei-Deal ging? War es nicht das eigentliche Ziel, aus innenpolitischem Abschottungsinteresse die Türkei zum sicheren Drittstaat umzudefinieren?
Lassen Sie uns einmal über diesen Deal reden. Ich möchte fragen, ob mit der türkischen Regierung auch darüber verhandelt worden ist, wie im Umgang mit Flüchtlingen internationales Recht, also die Genfer Flüchtlingskonvention, eingehalten wird. Das wird sie in der Türkei nämlich nicht. Oder haben Sie mit der türkischen Regierung darüber gesprochen, dass Erdogan Flüchtlinge nach Syrien und in den Irak abschieben lässt, dass er auf syrische Flüchtlinge, auch auf Kinder, schießen lässt?
Haben Sie darüber verhandelt, dass an der Grenze zu Syrien die Menschen mit einer Mauer an der Flucht aus der Hölle Aleppos gehindert werden, was doch mit Flüchtlingsschutz und Schutzverantwortung überhaupt nichts mehr zu tun hat?
Was bedeutet es, wenn wir gestern im Auswärtigen Ausschuss von der Bundesregierung zu hören bekommen, dass über die Abschiebungen nach Syrien und über die Schüsse auf Flüchtlinge keine Kenntnisse vorlägen? Bedeutet das etwa, dass Sie Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch nicht mehr zur Kenntnis nehmen, oder bedeutet es vielleicht, dass Sie diese Kenntnisse gar nicht so sehr interessieren, weil der Zweck bei diesem Deal die Mittel heiligt? Wenn das so ist, dann frage ich Sie als Letztes: Wer verdealt hier eigentlich gerade die Menschenrechte und die völkerrechtlichen Verpflichtungen?