Zur aktuellen Situation in der Türkei erklärt Claudia Roth:
Der von Präsident Erdogan vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Zivilbevölkerung unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ führt zu einer dramatischen Verschlechterung der Menschenrechte in der Türkei. Anhänger der Regierungspartei AKP haben mittlerweile über 400 Büros der oppositionellen HDP angegriffen und dabei großen Schaden verursacht. Ebenso gibt es keine Sicherheit für unabhängige Journalisten und Medienmacherinnen. Die offensichtlich gut organisierten Angriffe auf die Redaktion der großen türkischen Zeitung Hürriyet sind besorgniserregende Hinweise auf das, was wir im Wahlkampf zu den Parlamentsneuwahlen zu befürchten haben.
Der Krieg gegen die Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten ist für Präsident Erdogan offensichtlich das Hauptinstrument, um bei den von ihm gewollten Neuwahlen einen passablen Erfolg für den Aufbau einer Autokratie á la turca zu erzielen. Deshalb sind aktuell über 100 Bezirke im Südosten des Landes zu Sperrbezirken erklärt worden. Freie und demokratische Wahlen sind unter diesen Umständen unmöglich.
Die aktuellen Entwicklungen sind besonders alarmierend, weil sie das klassische Asylland Türkei mit dem aus den 1980er und 1990er Jahren bekannten Maß an Verfolgung aus politischen, ethnischen und religiösen Gründen wieder in den Fokus rücken. In dieser Situation die Türkei zum sicheren Herkunftsland auf europäischer Ebene erklären zu wollen, ist nicht nur politisch kurzsichtig, sondern brandgefährlich. Ein solches Vorhaben der Kommission ignoriert völlig die reale Menschenrechtslage in der Türkei und zeigt gerade wie unter dem Brennglas, wie unsinnig eine politische Definition von sicheren Herkunftsstaaten ist. Die Bundesregierung muss auf die EU-Kommission einwirken und bei den kommenden Gipfeln die wahnwitzige Idee, die Türkei als sicheres Herkunftsland einzustufen, ablehnen.
Das bisher sehr besonnene Agieren der HDP und anderer politischer Akteure in der Türkei belegt jedoch, dass der Widerstand in der türkischen Zivilgesellschaft wächst. Erdogans Vorstellung einer Türkei mit ihm als Alleinherrscher wird das Bild einer offenen, toleranten und demokratischen Türkei, wie wir sie am Taksim-Platz erlebt haben, entgegen gesetzt.