Im Rahmen der Sonderausstellung „SE(H)NSUCHT“ zu den Themen Sucht und Hepatitis C des Deutschen Kompetenznetzwerks Sucht e.V. wurde Claudia Roth am 17. März mit dem erstmals verliehen „SE(H)NSUCHT – Preis für Bürgermut gegen Stigmata“ geehrt.
Der Preis ist eine eigens von Bildhauer Stephan Balkenhol geschaffene und gestiftete Figur, die nun für ein Jahr in das Büro von Claudia Roth einziehen wird, ehe sie an die nächste Preisträgerin oder den nächsten Preisträger weitergegeben wird.
„Sie, Frau Roth, sind Haltung statt Stimmung. Dafür gebührt Ihnen Achtung“, begründete Pfarrer Michael Becker in seiner Laudatio die Entscheidung der Jury und würdigte die klare Haltung von Claudia Roth gegen Ausgrenzung und ihr Engagement für Menschenwürde.
Laudatio von Pfarrer Michael Becker (Kassel) anlässlich der Preisverleihung „SEHNSUCHT – Preis für Bürgermut gegen Stigmata“ an Claudia Roth in Berlin am 17. März 2017
(Es gilt das gesprochene Wort!)
SEHNSUCHT oder die Hoffnung auf Wert
Sehr geehrte Frau Roth,
verehrte Damen und Herren,ich stehe hier nicht als Kenner, sondern als Bewunderer. Als ferner Freund von Frau Roth. Fern im Sinne von Fernsehen. Daher kenne ich Sie. Und schätze Sie. Man muss nicht alles von einem Menschen wissen, um ihn oder sie wertzuschätzen, zu achten. Ich stehe hier als einer, der Sie achtet. Darauf komme ich gleich zurück.
Zunächst kurz zu mir. Mein Ruhestand bescherte mir mehr Zeit – und die Freundschaft zu Bernd Weber, einem der Initiatoren. Von ihm wurde ich angesteckt für diesen Abend. Und habe gerne für diese Worte zugesagt. Weil ich eins besonders bewundere: Mut. Nicht das „Hurra“ beim Erstürmen von Barrikaden, sondern überlegten Mut. Nur er ist fähig, Wert zu geben. Menschen Wert zu geben. Um eins dreht sich alles im Leben: um Wert. Um meinen und den anderer.
Was genau ist das: überlegter Mut? Wo kommt er her? Darauf möchte ich jetzt eine Antwort versuchen.
Eine Antwort auf meine Weise . Sie macht einen kleinen Umweg über eine Geschichte.
Ich bin auch Bewunderer des englischen Schriftstellers Gilbert Keith Chesterton (1874 – 1936), dem Erfinder des Pater Brown. Chesterton war eine so stattliche wie streitbare Erscheinung. Eines Tages um 1930 bekommt der damals berühmte Schriftsteller den Brief einer Tageszeitung. Sehr geehrter Herr, schreibt die Zeitung, wir machen eine Umfrage unter Schriftstellern. Bitte beteiligen Sie sich und antworten uns mit ein paar Zeilen auf die Frage: „Was ist faul an dieser Welt?“
Der Schriftsteller legt den Brief zur Seite. Er will nachdenken. Nach etwa einer halben Stunde setzt er sich an seinen Schreibtisch, nimmt ein Blatt Briefpapier und schreibt seine Antwort. Er schreibt aber keinen Brief und keine paar Zeilen, er schreibt nur ein einziges Wort als Antwort auf die Frage „Was ist faul an dieser Welt?“
Er schreibt: „Ich“.
Eine mutige und zutiefst wahre Antwort ist das. Kein Gerede, keine Erklärungen. Der Schriftsteller berührt den wundesten Punkt, den es gibt in der Welt: Ich. Ich bin meine Aufgabe. Ich habe niemanden zu bekehren oder zu belehren. Ich habe mich zu fragen: Könnte ich verantwortlich sein? Lebe ich mit anderen? Oder lebe ich, wie es mir am besten passt?
Das sind so Fragen. Selbstzweifel. Bin ich so, wie ich sein soll? Trage ich dazu bei, dass in meinem Leben oder in der Welt etwas faul ist?
Die Hoffnung darauf, Menschen Wert zu geben, beginnt mit Zweifel an sich selbst. Und das, meine Damen und Herren, halte ich für Demut. Mit Demut, dem Wissen also, selbst nicht immer richtig zu sein, beginnt überlegter Mut. Mut ist überlegt, wenn die Zweifel an sich immer etwas größer sind als der Glaube an sich.
Meine Selbstzweifel sind wertvoll. Wie eine Brücke. Für andere. Sie finden dann leichter ihren Weg zu mir. Und ich zu ihnen.
Ich hoffe, verehrte Frau Roth, ich bin Ihnen mit diesen Gedanken noch ein wenig näher gerückt. Ich halte Sie nicht einfach für mutig. Mutig mit Hurra sind viele. Sie halte ich für überlegt mutig. Es gelingt Ihnen, Menschen Wert zu geben. Ich muss nicht alle Wohltaten aufzählen, mit denen Sie mich beeindrucken. Ich will aber sagen, dass ich um drei Bereiche weiß, in denen Sie so überlegt sind wie mutig. Über Jahre. Nicht eben mal forsch – und dann Ihrer Wege gehen. Sondern dranbleiben, laut werden, womöglich nerven. Und zwar mit Herz dranbleiben; nerven mit Herz sozusagen.
– Sie achten auf die, die aus der Welt zu fallen drohen.
Das geht heute schnell. Zu schnell. Viele davon finden nicht mehr zurück in die Welt. Diese Menschen bemerken Sie. Für sie treten Sie ein, halten sie für wert. Es geht dann nicht darum, wer schuld ist am Leid oder der Sucht und den Suchtfolgen. Es geht darum, denen aufzuhelfen, die gestrauchelt sind; warum auch immer sie gestrauchelt sind.
– Sie achten, wovon wir leben.
Die Erde ist keine Selbstverständlichkeit. Für mich ist sie geschaffen; uns zum Glück. Ein zerbrechliches Glück, an das wir uns nie gewöhnen dürfen, bei keinem Einkauf, keinem Flug. Sie, Frau Roth, erheben Ihre markante Stimme, wenn die Erde seufzt unter uns Menschen. Das bewundere ich.
– Schließlich, zum dritten:
Sie wehren sich – auch heftig, wo es nottut – gegen die furchtbaren Politikvereinfacher; gegen die Geschichtsverfälscher von rechts und weit rechts. Die schrecklichen Überschminker unserer Geschichte. Die nicht sagen, was war, sondern wie sie es gerne hätten. Die auf Kosten von unfassbarer Schuld groß rauskommen wollen.
Sie, Frau Roth, sind Haltung statt Stimmung. Dafür gebührt Ihnen Achtung. Danke, dass Sie unseren Preis annehmen.
Hochmut macht fährlässig. Demut macht überlegt. Und dann mutig.
Der Preis, den Sie heute erhalten, ist ungewöhnlich. Ein Kunstwerk. Für ein Jahr können Sie es anschauen, wo immer Sie es hinstellen. Wieder bin ich ein Bewunderer, diesmal des Künstlers Stephan Balkenhol. An vielen Orten kann ich von Ihnen, Herr Balkenhol, Figuren sehen, die in einem Kirchturm steht. Sie stehen einfach da, mit oder ohne Tasche. Wer will, kann auf ihr Leben sehen. Oder auf ihre Freude, Wertschätzung des Lebens. Oder sonst ein Rätsel. Ich sehe „wesenhafte Grundzüge des Menschseins“ (Balkenhol). Und soll nur eins: mich darin erkennen als das, was ich mitunter ja bin: ein Rätsel. Wie dieser Mensch hier, die Preisfigur. Verwechselbar, durchschnittlich. Aber seltsam bereit, unter besonderen Gegebenheiten seinen unverwechselbaren, überdurchschnittlichen Mut zu zeigen. Manchmal müssen wir erschüttert sein über unsere Feigheit; und manchmal dürfen wir erstaunt sein über unseren Mut.
Jeder Mensch ist auch Rätsel – sich selbst und anderen. Wenn ich eine Balkenholfigur sehe, sehe ich weniger auf die Kunst, als auf einen fremden Freund. Ein Rätsel an Mensch – wie auch ich oft. In Bewegung oder in Ruhe. Der oder die will auch leben, denke ich dann. Leben heißt wertvoll sein, für wert gehalten werden. Ob ich dabei helfen kann?
Ist uns Menschen überhaupt zu helfen?
Ja. Durch überlegten Mut. Mit bleibender Hingabe an die, die uns wirklich nötig haben.
Wir leben in Zeiten der Übertreibung. Ein so genannter Skandal jagt den nächsten. Das mag gut sein für die, die daran verdienen. Vieles stellt sich bald als nichtig heraus. Dann ist der Verdienst eingefahren und ein neuer Skandal in Aussicht. Allerdings hat diese Hatz einen Nebeneffekt, der gewollt ist. Die leisen Skandale, die wirklichen Dramen verschwinden, als gebe es sie nicht. Es gibt sie aber. Die Welt verstört. Uns alle. Gegen Verstörung hilft aber kein Rückzug von der Welt. Hinwendung hilft.
Der Bettler in der Straße will Geld, natürlich. Aber noch mehr will er einen kurzen Blick, der ihm zeigt: Du bist mir mein bisschen Geld wert. Der Süchtige will Medikamente, selbstverständlich. Viel mehr aber will er spüren, dass er der Hilfe wert ist; der Hilfe des Doktors und der Pharmaunternehmen. Dass er Mensch bleibt, dazugehört, trotz seines, wie es oft heißt: Makels. Die Biertrinker in den Städten wollen, müssen sich betäuben. Eigentlich aber wollen sie uns als Menschen, die sie nicht verurteilen, ausgrenzen oder schon mit Worten entwerten. Die also deren Elend nicht vergrößern durch einen verächtlichen Blick.
Wenn Berühmte sich trennen, ist das ein Scheinskandal, der nichts bringt außer Auflage. Ein wirklicher Skandal ist, Menschen für unwert zu halten. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Die Welt ist auch wie ein Wartezimmer. Man wartet dort auf Gesundung, ja. Viel mehr aber wartet man auf Berührt werden. Was so viel heißt wie: Dazugehören.
Ohne einen gewissen Schutz vor der Welt bestehen wir die Welt nicht. Wir umstellen uns mit Sachen, mit Fleiß bei der Arbeit. Damit zeigen wir uns Wert. Anderen fehlen diese Sachen, es fehlen ihnen Menschen. Es geht nicht um Schuld, sondern um Hilfe. Seien es Worte und/oder Taten. Menschen aufrichten ist unsere vornehmste Tat. Menschen achten – schon im Sprechen über sie – gehört zu unseren elegantesten Worten. Als Menschen haben wir, meine ich, die Pflicht, unter möglichst alles Umständen andere Menschen würdigend anzusehen und anzusprechen. Gestrauchelte ansehen macht sie ansehnlich. Ansehen ist Wert.
Seien Sie alle dabei, bitte ich Sie. Holen Sie aus Ihrer Demut, aus dem Wissen um die Zerbrechlichkeit von allem in jedem Augenblick, Ihren überlegten Mut. Und Ihre Bewunderung für den Kampf, ja, Kampf von Menschen, die Welt nicht zu verlieren; sich in der Welt nicht zu verlieren. Jedem Menschen, den sie diesen Kampf nur einen Tag lang gewinnen lassen, geben Sie Wert. Und gewinnen Wert für sich selbst.
Bleibt mir zum Schluss noch ein persönliches Wort an Sie, Frau Roth, in Erinnerung an den Film „Pretty Woman“ und die wohl ewig jung bleibende Julia Roberts.
Kürzlich durfte ich sehen, mit welcher Herzlichkeit Sie und Richard Gere in Berlin vor den Kameras standen. Und dachte: Wenn ich eine Laudatio auf Sie halten dürfte – das war damals noch nicht ausgemacht – habe ich einen wichtigen Gedanken für Sie. Ich denke also: Nachdem die Hand von Richard Gere auf Ihrer Schulter lag wie einst auf der von Julia Roberts, bleiben auch Sie, Frau Roth, ewig jung.
Bleiben Sie mutig. Überlegt mutig. Und helfen wir, wenn möglich, unseren strauchelnden Nachbarn auf die Beine. Gerade denen, von denen es heißt, sie hätten es nicht verdient. Wer von uns könnte denn festlegen, welche Hilfe Menschen angeblich verdienen – oder nicht verdienen? Welche es uns wert sind – oder nicht?
Jeder Mensch hat eine große Sehnsucht: Wertvoll zu sein. Geben wir Menschen Wert. Nicht, weil wir so gute Menschen sind. Sondern weil Menschen es wert sind.