Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Der Tod hat nicht das letzte Wort – Niemand zeugt für den Zeugen“ anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz
Deutscher Bundestag, 27. Januar 2015
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Sehr geehrter Herr Kaumkötter,
Sehr geehrter Herr Bockelmann,
vor allem aber liebe Künstlerinnen und Künstler!
Ich bin tief bewegt und fühle mich geehrt, an einem solchen Tag wie diesem, Sie alle hier heute begrüßen zu dürfen!
Es ist ein großes Glück und ein ganz besonderer Moment, 70 Jahre nach Auschwitz, 70 Jahre nach unfassbarem Leid und unvorstellbarem Grauen, mit ihnen das Gedenken an den Horror, an das Ende der Zivilisation gemeinsam mit dem Leben zu begegnen.
Leben, meine Damen und Herren, das sehen Sie heute hier auf den Stellwänden und in den Installationen der beeindruckenden und berührenden Ausstellung „Der Tod hat nicht das letzte Wort – Niemand zeugt für den Zeugen“.
Ein Leben, das sich nicht mit dem Tod und dem Ende abfindet, sondern als Kreativität und im künstlerischen Ausdruck fortdauert.
Die Kunst, die Sie in dieser Ausstellung sehen können, ist in Theresienstadt und in Auschwitz entstanden, während oder unmittelbar nach der Zeit der Shoa, aber auch an anderen Orten, an denen die Shoa noch bei nachfolgenden Generationen ihre Wirkung entfaltete und zu einer ganz eigenen künstlerischen Sprache führte.
Doch das Grauen in Auschwitz, so umfänglich und total es auch war, die Vernichtung, der industrielle Massenmord, die Entmenschlichung, dieses Grauen der Nazis hat es nicht vermocht, das Leben, die Kreativität, Kunst und Kultur auszulöschen.
Das ist die Kraft dieser Ausstellung, das ist die Botschaft dieser Ausstellung.
Was mich ganz besonders freut ist, dass es einige der Künstler heute zu uns nach Berlin zur Eröffnung ihrer Ausstellung geschafft haben:
Ich begrüße von ganzem Herzen:
Herrn Yehuda Bacon, Herrn Michel Kichka, Frau Greta Klingsberg, und Frau Sigalit Landau, deren Werke Sie hier sehen und auf sich wirken lassen können.
Sie alle sind extra aus Israel angereist. Herzlich Willkommen in unser aller Namen und herzlichen Dank für Ihre Anwesenheit, die dieser Eröffnung eine ganz besondere Bedeutung gibt!
Denn es ist uns allen ein besonderes Geschenk, dass Sie Ihre Werke anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz, von der Hölle der Barbarei der Nazis heute hier im Deutschen Parlament, im Herzen der bundesdeutschen Demokratie zeigen.
Sie erfüllen uns an diesem Tag der Befreiung mit Freude, aber auch mit grenzenlosem Respekt vor ihrem Großmut!
Der 27. Januar ist für uns Deutsche ein Tag der Schande und der Tag unserer tiefsten Schuld –
- ein Tag der Mahnung,
- ein Tag des Erinnerns in die Zukunft.
Denn wie mein Vater mir auf meinen Weg mitgegeben hat – ich als 1955 Geborene habe nicht dir Gnade der späten Geburt, sondern die Verantwortung, die Vergangenheit nicht zu verdrängen oder das dunkelste Kapitel unserer Geschichte zu schließen.
Ich und wir alle haben es als Auftrag zu verstehen, jede Form von
- Antisemitismus,
- Rechtsextremismus,
- Rassismus
- und Diskriminierung zu bekämpfen!
Dass Sie, liebe Künstlerinnen und Künstler, diesen Tag zusammen mit uns begehen, erfüllt uns mit tiefer Dankbarkeit!
Und ich bin auch dem Kurator, Herrn Dr. Jürgen Kaumkötter, unglaublich dankbar, dass er uns auf diese wunderbare Idee der Ausstellung zu diesem 27. Januar 2015 brachte und uns allen die Chance gab, uns der Geschichte aus einem anderen, gleichwohl eindringlichen Blickwinkel zu nähern: dem Blickwinkel der Künstler und ihrer Kunst.
Und mein Dank gilt auch dem
- Auswärtigen Amt,
- der Stiftung Niedersachsen,
- der Universität Osnabrück
- sowie dem Zentrum für verfolgte Künste in Solingen,
die alle diese Ausstellung heute hier mit ermöglicht haben.
Die Ausstellung verbindet Kunstwerke – und ja, es sind echte Kunstwerke, eben nicht nur Dokumente der Zeugenschaft oder gar reine Verarbeitungsstücke einer Traumabearbeitung von Opfern, welche die Hölle gesehen haben –
die Ausstellung verbindet große Kunstwerke, die durch die Lebenswege und das Schicksal ihrer Künstler miteinander verbunden sind.
Der Zeichner und Dichter Peter Kien, dessen Werke sie zu Beginn des Rundgangs entdecken können, brachte in Theresienstadt dem 12-jährigen Yehuda Bacon das Zeichnen bei. Beide kamen nach Auschwitz, wo Kien starb, und Bacon überlebte. Er ging nach dem Krieg und der Befreiung nach Jerusalem. Bacon wurde Künstler und Lehrer an der Bezalel Akademie.
Dort wiederrum lehrte er der wunderbaren Sigalit Landau das Zeichnen. Sie ist heute eine der weltweit einflussreichsten zeitgenössischen Künstlerinnen – und ich bin, wenn ich das sagen darf, ein riesengroßer Fan, denn sie öffnet mein Herz und bringt meine Seele zum Weinen.
Einige Jahre nachdem Bacon in Pension gegangen war, wurde Michel Kichka Zeichenlehrer an der Bezalel Akademie in Jerusalem.
Alle vier Künstler sind in dieser Ausstellung verbunden zu sehen, Kien, Bacon, Landau und Kichka, und drei von ihnen sind heute hier anwesend:
- Bacon als Künstler, der Auschwitz überlebt hat,
- Landau und Kichka als Vertreter der Zweiten Generation,
- der Kichka in seiner Graphic Novel ein ewiges Denkmal gesetzt hat.
Begleitet wird Yehuda Bacon hier in Berlin von Greta Klingsberg. Sie beide haben sich nach der Shoa in einem Prager Kinderheim getroffen und sind zusammen 1946 nach Palästina gegangen.
Greta Klingsberg hat im Lager Theresienstadt – diesem „Vorzeige“-Lager der Nazis, in dem ganz besonderen Wert auf Musik und Kultur gelegt wurde, um die Grausamkeit der SS zu verschleiern – zwischen 1942 und 1943 52-mal die Hauptrolle in der Kinderoper „Brundibar“ gespielt – die ich übrigens zu Jahresbeginn in Palermo sehen und hören konnte.
Rechts am Anfang der Ausstellung sehen Sie das Filmplakat von dem Dokumentarfilm „Wiedersehen mit Brundibar“, der dieses Jahr auf der Berlinale vorgestellt wird. Er setzt Greta Klingsberg und ihrem Leben ein würdiges Denkmal. Der Dokumentarfilm schlägt die Brücke von der furchtbaren Vergangenheit in eine lebenswerte Gegenwart.
Dadurch, dass die gesamte Ausstellung so die Kunst der Gegenwart in ihren Bezügen zur Vergangenheit berücksichtigt, wird sie nicht etwa zum „archäologischen Ort“, sondern zeigt, dass die künstlerische Verarbeitung des Holocaust bis in unsere Gegenwart hineinreicht und auch die Zukunft noch prägen wird.
Für mich ist diese Ausstellung zweifellos auch ein Fest der Kunst und des künstlerischen Ausdrucks, mit hohem, zum Teil unermesslichem ästhetischen Wert.
Sie ist eine Dokumentation des Überlebens.
Des Überlebens von Menschen, aber auch des Überlebens des Lebens selbst, der Kreativität.
Alle Künstler dieser Ausstellung eint die Katastrophe des letzten Jahrhunderts – die Shoa ist der Kern ihrer Kunst.
In ihren Werken ist sie das zentrale Motiv, auch dann, wenn sie vordergründig nicht zu sehen ist, wie in den vielen Zeichnungen Kiens.
Die Ausstellung macht die Linie, die von Kien über Bacon bis hin zu Landau führt, als Lebenslinie erfahrbar. Die Ausstellung erzählt damit auch die Geschichte der Weitergabe, ja des Erbes von Leben.
Irgendwann wird es keine Überlebenden der Lager mehr geben, nachfolgende Generationen werden ihre Verantwortung tragen müssen.
Die Geschichte der „Kunst der Katastrophe“ ist damit nicht nur, aber auch eine Geschichte des (Ver-)Erbens.
Sie zeigt die Kraft der Kunst, die selbst dann überlebt, wenn überall nur Tod und Zerstörung sind. Menschen kann man töten, ein Talent nicht. Die Kreativität lebt weiter, in der Kunst und im Werk bewahrt. Das ist die hoffnungsvolle Botschaft dieser Ausstellung.
Denn der Tod darf niemals das letzte Wort haben!
Daraus erfolgt für uns auch eine Verantwortung, die sich gerade in unserer Erinnerungskultur und – ja – auch unserem Umgang mit den Künsten, der Akzeptanz ihrer Rolle für und in der Gesellschaft zeigen muss.
Vielen Dank!
Weitere Informationen zur Ausstellung finden sie hier.