Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr gerne und aus tiefer leidenschaftlicher, demokratischer Überzeugung möchte ich mich um das Votum unserer Fraktion für das Amt der Vizepräsidentin des 21. Deutschen Bundestages bewerben – um Euer aller Votum.
Vielleicht denkt die eine oder der andere jetzt: Claudia hat doch schon fast alles gemacht in der Partei und für die Partei, im Parlament und zuletzt in der Exekutive – wäre es jetzt nicht an der Zeit für sie, etwas zurückzutreten?
Es sind genau diese Zeiten, in denen wir uns befinden, die mich zu dem Entschluss und der tiefen Überzeugung gebracht haben, an dieser so wichtigen Stelle für unsere parlamentarische Demokratie zu kämpfen und für bündnisgrüne Politik in unserem Land sichtbar, hörbar und unerschrocken einzutreten. Es sind genau diese Zeiten, in denen all das, was ich mitbringen kann und mitbringen will, einen Unterschied für und an dieser Stelle machen kann. Und das in einem jung gebliebenen Alter, in dem andere erstmals Regierungserfahrung sammeln und Kanzler werden wollen.
Unsere Welt ist im Umbruch, die gesamte Nachkriegsordnung wird in Frage und sogar auf den Kopf gestellt, die Demokratie und ihre zentralen Institutionen werden permanent attackiert, von innen und von außen. Die Debatten- und Meinungsbildungsprozesse werden von fragwürdigen Algorithmen und den politischen wie Profitinteressen einiger Tech-Milliardäre umgepflügt und manipuliert, mit Desinformationen und Fake News wird versucht, Tatsachen und Fakten zu unterminieren und die Universalität der Menschenrechte sowie die Bedeutung des wertebasierten Völkerrechts werden angegriffen.
Seit über drei Jahren wütet der aggressive Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die jetzt auch noch mit dem Hasardeur Trump konfrontiert ist. Auch die Krisen im Nahen Osten und in Syrien drohen weiter zu einem regionalen Flächenbrand zu werden. Europa muss nicht zuletzt wegen der Politik Trumps mehr Verantwortung übernehmen, gerade jetzt noch mehr zusammenwachsen, gestärkt werden.
In dieser Situation schreitet die Klimakrise mit großen Schritten voran. Sie bedroht nicht nur unsere Umwelt, sie bedroht unser Überleben, unsere gemeinsame Zukunft. Große Verunsicherung macht sich in dieser Situation bei vielen Menschen breit, Orientierung und Halt gehen verloren, gewohnte Stabilitäten drohen wegzubrechen. Ganz konkret stehen viele Menschen in unserem Land vor der Frage, wie sie überhaupt noch eine bezahlbare Wohnung finden können, wie sie mit dem, was sie für ihre Hände und Köpfe Arbeit verdienen, überhaupt noch bis zum Monatsende kommen sollen, wie sie einen Platz in der Kita für ihre Kinder und einen Pflegeheimplatz für ihre Eltern finden und finanzieren sollen.
In dieser herausfordernden Zeit des Umbruchs, geprägt von wachsender sozialer Ungleichheit, müssen wir in den letzten Jahren und noch verstärkt in den letzten Monaten und Wochen erleben, wie Flucht und Migration als vermeintliches Hauptproblem unserer Zeit hochgezogen werden, wie sachliche und notwendige Lösungsansätze von schlimmstem Populismus und Scheinlösungen überdeckt werden, bis hin zu offenem Rassismus und einem Diskurs, der die Realität unserer Einwanderungsgesellschaft in Frage stellt, der unsere Gesellschaft giftig spaltet und immer mehr zu einem Generalverdacht für alle Menschen mit Migrationsgeschichte wird.
Wir erleben, wie eine Union den Konzepten und dem Diskurs der AfD hinterherrennt, deren Positionen zunehmend übernimmt und auch die Idee einer vermeintlichen Leitkultur wieder aus der Mottenkiste hervorkramt. Wenn mir Menschen sogar in der zweiten und dritten Einwanderergeneration sagen, sie hätten mehr und mehr das Gefühl, dass sie hier bei uns nicht mehr dazugehören sollen, wenn sie sich mit dem Gedanken tragen, zu gehen – dann ist das nicht mehr unser vielfältiges, offenes Land.
Wenn all die hart erkämpften Errungenschaften wie Gleichberechtigung und Feminismus, wie LGBTQI+-Rechte, wie der Schutz von Minderheiten und der Einsatz gegen Diskriminierung jetzt nur noch „woke“ sein sollen – dann sind wir an einem Kipppunkt angekommen, an dem es starke bündnisgrüne Stimmen und klare Kante braucht, im Parlament und nach außen, in das ganze Land hinein. Dann gilt es, in diesem Kulturkampf klar Position zu beziehen und auch nicht zuzulassen, dass die, die es tun, von den „Omas gegen Rechts“ bis zu den Klimaschützer*innen, für ihr wichtiges Engagement für unsere demokratische Gesellschaft diffamiert und finanziell ausgetrocknet werden. Dann brauchen wir wieder ein scharfkantigeres Profil als Bündnisgrüne, ganz so wie es Katharina, Britta und die Fraktion bei den Verhandlungen zum Finanzpaket für Verteidigung und Infrastruktur gezeigt haben.
Genau dafür möchte ich mich einsetzen, mit Erfahrung, Leidenschaft und Entschlossenheit, im Parlament als Herzkammer der Demokratie, im ganzen Land, in den Kommunen, in den Ländern, im Süden, im Norden, im Osten und im Westen unseres Landes, bei „Jamel rockt den Förster“ genauso wie auf dem Oktoberfest – bunt, laut und leidenschaftlich. Dafür möchte ich das Parlament als Ort der demokratischen Streitkultur verteidigen und die Bindewirkung des Parlamentes in die ganze Breite unserer Gesellschaft wieder stärken. Und auch für eine enge Zusammenarbeit in Europa und weltweit für die Demokratie und eine regelbasierte internationale Zusammenarbeit sorgen.
Dafür brauchen wir auch ein klares Eintreten gegen jeglichen Revisionismus, gegen die Bestrebungen, unsere Erinnerungskultur, die Verantwortung, die sich aus der Geschichte unseres Landes aus dem Menschheitsverbrechen der Shoah ergibt, zu relativieren. Dafür brauchen wir eine lebendige und zeitgemäße Erinnerungskultur, die an die Terrortaten des Rechtsextremismus und seine Opfer erinnert – und die unsere koloniale Vergangenheit aufarbeitet.
Nachdem ich mich nun in den letzten Jahren für eine starke Kultur in und für unsere Demokratie eingesetzt habe, möchte ich daran anknüpfend nun für die Stärkung und Widerstandsfähigkeit unserer Kultur der Demokratie mit all meiner Erfahrung, mit Herz und Verstand kämpfen. Und das mit einer Perspektive tun, die in der Fraktion und auch Partei nicht Wände hochzieht, sondern Brücken baut.
Für diese Tätigkeit im Präsidium des Deutschen Bundestages schadet es nicht, nun auch die Funktionsweise der Exekutive von innen, aus dem Kanzleramt heraus zu kennen – ganz im Gegenteil.
Als grüne Vizepräsidentin wird es in den nächsten vier Jahren vor allem darum gehen, all jenen Kräften wie der AfD konsequent entgegenzutreten, die glauben, mit Hass und Hetze unsere demokratischen Institutionen und die Menschen in diesem Land angreifen zu können: mit einer fairen, aber unnachgiebigen Anwendung unserer Geschäftsordnung, mit einer Haltung, die klare Grenzen zieht, wenn Hass und Hetze, Rassismus oder Geschichtsrevisionismus in den parlamentarischen Raum getragen werden.
Unsere demokratischen Institutionen sind keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen jeden Tag aufs Neue verteidigt und gestärkt werden. Als überzeugte Demokratin, Schützerin der Verfassung und Kämpferin für Menschen- und Bürgerrechte für alle möchte ich mit Leidenschaft und Entschlossenheit für die Werte unseres Grundgesetzes einstehen.
Für eine starke und widerstandsfähige Kultur der Demokratie, für eine offene und vielfältige Gesellschaft, für ein Parlament, durch das sich alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit vertreten fühlen, bitte ich herzlich um Eure Unterstützung.
Eure Claudia Roth