Rede von Claudia Roth, gehalten am 07.12.2018, anlässlich der Konferenz der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen: „70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – Respect. Protect. Promote“.
Es gilt das gesprochene Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, geehrte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde!
Auch ich freue mich wirklich sehr, Sie heute hier im Deutschen Bundestag begrüßen zu dürfen – an einem einem jedenfalls FAST-Jahrestag, der zunächst einmal Grund zur Freude ist.
Was da vor 70 Jahren erschaffen wurde, diese so hoffnungsfrohe und zukunftsgewandte Essenz aus dem schrecklichen Leid und der unbeschreiblichen Not von Millionen von Menschen, diese schriftgewordene Primärlehre aus einigen der dunkelsten Kapitel der Geschichte, nicht zuletzt auch dieses Landes, diese „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Vielmehr war sie Kraftakt, ist bis heute eine der größten Errungenschaften menschlicher Zivilisation, war sowohl Ergebnis unzähliger Sprünge über riesengroße Schatten der Vergangenheit als auch: Versprechen an die gesamte Menschheit, an die „Gemeinschaft der Menschen“, wie es im ersten Satz der Präambel so wunderschön heißt.
Und es lohnt sich auch heute noch, diese Präambel genauer zu lesen – denn sie könnte aktueller kaum sein.
Die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte, heißt es da, hat zu Akten der Barbarei geführt, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen.
Es sei deshalb verkündet worden, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt.
Und: Deshalb sei es notwendig, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen.
Eine Welt der Menschenrechte als höchstes Streben eben dieser Menschen: genau darum geht es – bis heute. Und das macht es zweierlei deutlich.
Erstens: Ja, es ist unser aller Aufgabe, die universellen, unveräußerlichen, unteilbaren Menschenrechte zu verteidigen, ohne Wenn und Aber, morgen nicht weniger als heute, 2018 nicht weniger als vor 70 Jahren.
Das gilt umso mehr, als der dissonante Chor derer, die diesen menschenrechtlichen Imperativ der Weltgemeinschaft offen infrage stellen, erneut lauter wird.
Unter dem Vorbehalt der Ideologie, unter Hinweis auf ein angeblich kulturell bedingt anderes Menschenverständnis, unter dem Vorwand vorgeblich übergelagerter staatlicher Sicherheitsinteressen – vermehrt aber auch ohne jeden Versuch der Rechtfertigung werden: Frauen angegriffen, Aktivistinnen und Aktivisten verfolgt und eingesperrt, Folter öffentlich verteidigt, zum Teil auf oberster Regierungsebene.
Und das geschieht nicht nur in Brasilien, den USA oder in Russland! Auch ein Viktor Orbán sagt da offen in einer Rede, er wolle nicht, dass die weiße Hautfarbe in Ungarn „mit der von anderen Menschen vermischt“ werde. Der italienische Innenminister beginnt offen-faschistisch eine Zählung von Roma – und bezeichnet Geflüchtete in Seenot als Menschenfleisch.
Und wenn der österreichische Innenminister einen offenen und unverhohlenen Angriff auf die Pressefreiheit lanciert – dann erntet er dafür Applaus von einer Fraktion in diesem Hause, die den Bundestag offensichtlich nicht als würdevollen Ort der parlamentarischen Streitkultur versteht, sondern als billige Bühne für Ausgrenzung und Hassrede.
So sehr ein Geburtstag also stets Grund zur Freude ist, so sehr ist heute keine Zeit für feierliche Jubelreden.
Vielmehr braucht es nun das, was nicht ohne Grund in unserem Titel zu diesem Fachgespräch steht: respect, protect, promote – auf allen Ebenen.
Die Menschenrechte nämlich sind nichts, das man sich nur leisten kann, wenn die Rahmenbedingungen günstig sind.
Sie sind kein Luxusgut, das in den Hintergrund rücken kann, wenn die Stunde angeblich wichtigerer Themen schlägt.
Im Gegenteil: Unser Einsatz zum Schutz der errungenen Kinderrechte, der Frauen- und Minderheitenrechte, des 1986 erkämpften Menschenrechts auf Entwicklung: All das ist auf Dauer die verlässlichste Grundlage für Stabilität und Frieden, im Landesinneren wie weltweit.
Zugleich gilt, zweitens: Angriff ist die beste Verteidigung.
Will heißen: Während wir die bisherigen Errungenschaften gegen die dauerhaften Attacken dieser Rechtsstaatsverächter und Demokratiefeinde verteidigen, müssen wir uns gleichzeitig zutrauen, das Menschen- und Völkerrecht auch weiterzuentwickeln zu dürfen.
Die Einhegung der Globalisierung entlang einklagbarer menschenrechtlicher Standards beispielsweise ist keine Forderung derer, die keine anderen Sorgen haben, ist auch nicht wirtschafts- oder fortschrittsfeindlich – sondern notwendiger Schritt hin zu einer Weltordnung, die den Menschen und seine Rechte ins Zentrum aller Erwägungen rückt, nicht den blinden Selbstlauf des Geldes.
Auch die Ausweitung der Menschenrechte auf ein Recht auf saubere Umwelt, die Erweiterung des internationalen Rechtekanons angesichts klimabedingter Migration und Flucht sind keine grünen Hirngespinste, sondern schlichte Notwendigkeit in einer Welt, die sich so rasch verändert wie nie zuvor, und in der bereits heute Millionen von Menschen von der Klimakrise in ihrer Existenz bedroht sind – übrigens just in den Ländern, die historisch am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben.
Schließlich: Wenn die vermeintlichen Sicherheitsexperten – und ich nutze hier bewusst nur die männliche Form – mal wieder die Augen verdrehen, wenn wir Grüne einfordern, dass der traditionelle Sicherheitsbegriff vervollständigt gehört um wirtschaftliche, politische und gesundheitliche Sicherheit, um Ernährungssouveränität und die Freiheit von Not und Furcht, dann beweisen sie damit keinen Sachverstand, sondern allenfalls, dass sie eines immer noch nicht begriffen haben: mit staatlichen Machtmitteln – so unverzichtbar deren Einsatz bisweilen auch sein mag – lassen sich womöglich Symptome von Krisen bekämpfen, nicht aber deren Ursachen.
Letzteres schafft nur eine zivile Krisenprävention, auf Grundlage eines tiefen Verständnisses menschlicher, nicht staatlicher Sicherheit, die dann aber auch nicht länger lästiges Beiwerk einer militarisiert-paternalistischen, sondern unverrückbare Grundlage einer vorausschauenden, womöglich ja auch konsequent-feministischen Außenpolitik werden muss.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste, Menschenrechtsschutz ist stets auch der Aufruf zu Disziplin, zur Verweigerung des einfachsten, aber kurzsichtigsten Weges.
Ich möchte mir das zu Herzen nehmen.
Es wäre für mich einfacher, weiterzureden – über das Sterben im Mittelmeer als Verletzung des Menschenrechts auf Leben, über die menschenrechtlichen Herausforderungen in einem digitalisierten Alltag, über die menschenrechtlichen Gefahren autonomer Kriegsführung.
Im vollsten Vertrauen auf eine spannende und sachkundige Konferenz aber bleibt mir nur noch, Ihnen gute und hoffentlich auch kontroverse Debatten zu wünschen – nicht ohne ein letztes Mal die Schönheit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wirken zu lassen, in Form ihres ersten Artikels, der da lautet:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“
Nicht weniger sollte unser Ziel sein, allenfalls mit einer Vervollständigung: Es spräche vermutlich nichts dagegen, dem Geist der Brüderlichkeit den der Schwesterlichkeit zur Seite zu stellen.
Herzlichen Dank.